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Armeniens Regierungschef unter Druck
Aus Echo der Zeit vom 10.05.2024. Bild: Reuters/Evgenia Novozhenina
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Vertrieben aus Bergkarabach Ernüchterung nach der Flucht: «Bergkarabach war ein Fake-Land»

Letzten Herbst sind rund 100'000 Menschen aus Bergkarabach nach Armenien geflüchtet. Armenien tut sich schwer mit ihnen.

Aus bis zu 20 Kräutern und Blattgemüsen macht Ira Ambartsumjan die Füllung für Shengjalow Hats, für das heisse, ölige Fladenbrot aus Bergkarabach. Sie hackt ein Büschel Kräuter fein – Koriander, Lauch, Sauerampfer, Brennnesseln. Ira wäre schon lange pensioniert, hat aber kürzlich in Eriwan einen Imbissstand aufgemacht. «Hände und Füsse funktionieren noch, warum sollte ich zu Hause warten, bis der Staat uns ein paar Groschen auszahlt?», fragt sie. Ira ist im September aus Bergkarabach nach Eriwan geflüchtet.

Seit September 2023 kontrolliert Aserbaidschan Bergkarabach

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Die Region Bergkarabach spaltete sich 1991 während des Auseinanderbruchs der Sowjetunion von Aserbaidschan ab. Nach Spannungen und Gewalt zwischen Armeniern und Aseris fühlte sich die armenische Bevölkerung von Bergkarabach in der aserischen Mehrheitsgesellschaft bedroht und rief eine eigene «Republik Arzach» aus. Mit der Bezeichnung Aseri ist ein Angehöriger des Volkes der Aserbaidschaner gemeint.

Die aserische Bevölkerung wurde vertrieben. Jahrzehntelang kämpfte die selbsternannte ethnisch-armenische Republik ums Überleben, wurde aber von keinem Land anerkannt, nicht einmal von Armenien selbst.

Nach mehreren Kriegen konnten aserbaidschanische Streitkräfte Bergkarabach 2022 umzingeln und unter Blockade stellen. Neun Monate lang waren die Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach von der Aussenwelt und damit von der Lebensmittelzufuhr abgeschnitten. Im September 2023 drang Aserbaidschans Armee erneut vor und übernahm die volle Kontrolle über das Gebiet. Aus Angst vor Gräueltaten flüchtete praktisch die gesamte Bevölkerung von Bergkarabach – etwa 100'000 Menschen – nach Armenien.

«Wir hörten, man habe für uns Armenier ein Gefangenenlager gebaut», erzählt Iras Tochter Rosa Sajadjan von den Tagen, als Karabachs Hauptstadt Stepanakert von aserbaidschanischen Truppen umzingelt war. «Ich glaube, die Gerüchte wurden bewusst gestreut, um uns in Panik zu versetzen.»

«Deswegen», sagt sie, «sind alle sofort geflohen, als die Strasse nach Armenien geöffnet wurde.» Für die rund 60 Kilometer brauchten sie 38 Stunden. Unterwegs starben viele der Flüchtenden: Bergkarabach war unter einer aserbaidschanischen Blockade gestanden. Es hatte an Essen und Medikamenten gefehlt. In Eriwan sind sie vorerst in Sicherheit. Der armenische Staat zahlt ihnen etwa 100 Franken pro Monat. Das sei nicht genug zum Leben, sagt Rosa. Die Mieten seien hoch, die Arbeitssuche schwer.

Verheerende Explosion

«Wäre die Explosion nicht gewesen, wäre alles viel einfacher», sagt Armine Wanjan. Auch sie flüchtete im September aus Stepanakert. Im Chaos explodierte dort ein Treibstofflager, als vor allem Männer Benzin für die Ausreise holen wollten. Bis heute ist die Zahl der Toten unklar, es könnten mehr als 200 gewesen sein. «Die Szene war apokalyptisch», sagt Armine, «es rannten halbnackte, verbrannte Männer durch die Stadt.»

Es gebe Familien, die Vater, Ehemann und Söhne verloren hätten – die Ernährer, sagt Armine Wanjan. Sie ist Fotografin und will sie mit einer Ausstellung unterstützen. In Karabach war sie Beamtin in der Verwaltung des Gebiets. Das geht in Armenien nicht.

«Nur ein kindischer Traum»

«Beamte brauchen einen armenischen Pass», sagt sie. Wie alle aus Karabach habe sie einen, aber die dort ausgestellten Pässe würden im armenischen Stellenmarkt nicht anerkannt. «Alles, woran wir geglaubt haben, war nur ein kindischer Traum», sagt Armine. «Es ist jetzt klar, dass Bergkarabach ein Fake-Land war.»

Doch nicht alle sind dieser Meinung. Die meisten Menschen aus Karabach und auch einige in Armenien geben dem armenischen Premier Nikol Paschinjan die Schuld am Verlust des Gebiets. Unter Paschinjan ist in Armenien aber auch Demokratie eingekehrt, und er sucht einen Ausweg aus dem Konflikt mit Aserbaidschan. Viele stützen seinen Kurs. Der Streit sorgt in Armenien für Spannungen.

Doch die Solidarität mit den Neuankömmlingen bleibt gross. Das zeigt sich in Ira Ambartsumjans Imbissbude: Viele Eriwaner kaufen gerne ein Fladenbrot, um die Geflüchteten zu unterstützen. «Tagsüber geht es, da bin ich hier, arbeite, plaudere», sagt Ira. «Aber nachts bin ich dort. Bei mir – in Stepanakert.» 

Grossdemonstrationen gegen Paschinjan

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Legende: Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan ist unter Druck. Zehntausende Menschen protestieren gegen die Regierung. imago images/ITAR-TASS/Sipa USA (09.05.2024)

In der armenischen Hauptstadt Eriwan protestierten am Donnerstag und am Freitag zehntausende Menschen gegen die Regierung. Sie kritisieren die Position des armenischen Premierministers Nikol Paschinjan in seinen Verhandlungen mit Aserbaidschan um die Grenzziehung zwischen den beiden Ländern.

«Es geht um vier verlassene Siedlungen, die Armenien seit den 1990ern kontrolliert, aber nun an Aserbaidschan abtreten will», sagt SRF-Kaukasuskorrespondent Calum MacKenzie. «Das Regime in Aserbaidschan legitimiert sich durch den Konflikt mit Armenien. Und Aserbaidschans Machthaber Ilham Aliyev verspricht seinem Volk konstant, ‹historisch aserbaidschanische› Länder würden zurückgeholt.»

Die Kriege um Bergkarabach hätten gezeigt, dass Armenien gegenüber dem öl- und gasreichen Aserbaidschan machtlos sei, so MacKenzie. Und Bakus Drohkulisse gegen den Nachbarn halte an. Darum versuche Armeniens Premier Paschinjan beinahe verzweifelt, einen Frieden zu erreichen. «Aber nun sagen viele in Armenien, Paschinjan gebe zu schnell nach und mache das Land noch anfälliger für einen aserbaidschanischen Angriff. Das sind nicht unberechtigte Ängste.»

Gleichzeitig sähen viele Armenierinnen und Armeniern Paschinjans Kurs als pragmatisch und stützten seine demokratischen Reformen, sagt MacKenzie. «Allerdings sind auch viele von den Reformen enttäuscht, sie finden sie zu halbherzig. Es bleibt abzuwarten, ob die aktuellen Proteste auch die breitere Unzufriedenheit mit Paschinjan ausnutzen können.»

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Echo der Zeit, 10.05.2024, 18 Uhr;kobt

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