Der momentane Zustand: Die Region Bergkarabach, die hauptsächlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt wurde, ist seit zwei Monaten unter aserbaidschanischer Herrschaft. Es ist zweifelhaft, ob die aserbaidschanische Regierung die Schutzversprechen gegenüber den Armeniern einhält. Grundsätzlich ist es aber so, dass das Volk gemäss UNO-Charta ein Selbstbestimmungsrecht hat.
Selbstbestimmungsrecht von Bergkarabach: «Es gibt eigentlich keinen Widerspruch zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität», sagt Völkerrechtler Ralph Janik. «Auch wenn das Gebiet der armenischen Republik Bergkarabach völkerrechtlich auf zu Aserbaidschan gehörendem Gebiet liegt, muss das Recht der Selbstbestimmung innerhalb der Grenzen von Aserbaidschan gewährt werden. Das nennt man die innere Dimension der Selbstbestimmung.» Allerdings ist dieses Recht oft nur theoretisch.
Geschichte im 20. Jahrhundert: Nach der Oktoberrevolution 1917 erhoben sowohl Aserbaidschan als auch Armenien Anspruch auf das Gebiet Bergkarabach. Nach der Eroberung durch die Rote Armee entschied das Zentralkomitee der kommunistischen Partei Russlands, das Gebiet aufzuteilen. Seit den 1960er-Jahren kam es vereinzelt zu Unruhen, die 1988 eskalierten. 1991 erklärte die Republik Bergkarabach ihre Unabhängigkeit. Diese wurde international nie anerkannt. Sie wurde aber militärisch abgesichert, unter anderem durch die völkerrechtlich illegale Besetzung sieben weiterer aserbaidschanischer Provinzen.
Jüngere Geschichte: 2020 begann Aserbaidschan mit einer Militäroffensive, um die von Armenien besetzten Gebiete zurückzuerobern. Trotz eines Waffenstillstandes 2020 und einer zivilen Beobachtermission startete Aserbaidschan 2023 eine neue Offensive. Eine Massenflucht der in Bergkarabach ansässigen Armenier setzte ein. Nach zwei Tagen kapitulierte die Republik Arzach, wie sich die Region Bergkarabach armenisch nennt.
Die Lehren aus der Geschichte: Völkerrechtsexperte Janik sieht drei Punkte, die für Armenien aus der Geschichte resultieren. «Armenien war in dem Konflikt in den 1990er-Jahren mit Aserbaidschan die stärkere Partei. Man hat es nicht geschafft, einen nachhaltigen Frieden zu schaffen. Und nun hat man gesehen, dass sich die Rache eines früheren Konflikts in weiteren Konflikten entladen kann.» Weiter könne man aus der Geschichte lernen, dass sich Machtverhältnisse ändern können.
Zukunft der Region: Armenien befürchtet, dass Aserbaidschan nicht nur die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Republik beherrschen will, sondern dass es auch noch andere Gebiete Armeniens erobern will. Dies wäre völkerrechtlich nicht legal, aber – wie der Experte sagt – «man sieht in den letzten Jahren, dass das Gewaltverbot in der UNO-Charta an Kraft verloren hat.» Russland hat beispielsweise die Ukraine angegriffen und nun merkten auch kleinere Staaten, dass sie mit einem Völkerrechtsverstoss davonkommen würden. «Aserbaidschan spielt nun auch für die EU eine zentrale Rolle, weil sie ein erhöhtes Bedürfnis nach Gas hat.»
Frieden? Frieden könne es nur geben, sagt Völkerrechtsexperte Janik, wenn einerseits die territoriale Integrität von Aserbaidschan respektiert und das Selbstbestimmungsrecht der armenischen Bevölkerung garantiert werde. Das heisst: Die armenische Bevölkerung sollte nach Bergkarabach zurückkehren können und ihre Kultur und Kulturgüter müssten geschützt werden.