Nach mehr als 30 Jahren steht die Region Bergkarabach nicht mehr unter der Kontrolle Armeniens, sondern unter der Herrschaft Aserbaidschans. Der Konflikt im Südkaukasus scheint damit entschieden. Noch 2020 handelten Armenien und Aserbaidschan unter russischer Vermittlung einen Kompromiss aus. Doch nun scheint sich Russland weitgehend herauszuhalten. Das sei ein bewusster Entscheid des Kremls, sagt der Politologe Stefan Meister.
SRF News: Warum hält sich Russland derart zurück?
Stefan Meister: Wegen des Krieges gegen die Ukraine und der westlichen Sanktionen braucht Russland neue Transit- und Handelskorridore. Der Südkaukasus – und hier insbesondere der Nord-Süd-Korridor über Aserbaidschan – ist für Russland sehr wichtig geworden. Er ermöglicht den Zugang zum Iran und weiter Richtung Indischen Ozean. Gleichzeitig braucht Russland die Türkei als wichtigen Handelspartner und zur Umgehung von Sanktionen – und diese ist der engste Verbündete von Aserbaidschan.
Russlands Schutzmachtstellung für Armenien hat also keine Gültigkeit mehr?
Ich bezweifle diese traditionelle Schutzmachtrolle Moskaus. Russland verfolgt immer nur Eigeninteressen. Über Jahrzehnte hat es Waffen an beide Konfliktparteien geliefert und eine Balance gehalten. Seit dem grossangelegten Krieg gegen die Ukraine sehen wir eine Interessenverschiebung. Es lässt sich aber nicht sagen, dass Russland immer auf der Seite von Armenien war.
Aserbaidschan kopiert im Prinzip Russland. Es nimmt sich mit Gewalt, wovon es glaubt, dass es ihm gehört.
Hat Russland nach wie vor den Anspruch, in seiner traditionellen Einflusssphäre als Ordnungsmacht aufzutreten?
Historisch und aus einer imperialen Perspektive sieht Russland Zentralasien und den Kaukasus – neben der Ukraine – als seine zentralen Einflussregionen. Bis zu einem gewissen Grad hat es dort zwar Einfluss verloren, weil es sein professionelles Militär in die Ukraine geschickt hat. Es tritt aber als autoritärer Normensetzer auf. Aserbaidschan kopiert im Prinzip Russland. Es nimmt sich mit Gewalt, wovon es glaubt, dass es ihm gehört.
Man kann angesichts der aktuellen Entwicklungen also nicht von einer Desintegration des postsowjetischen Raums sprechen?
Wir erleben durchaus eine beschleunigte Desintegration dieses Raums und damit letztlich auch des russischen Imperiums. Der eigentliche Trend ist, dass dritte Mächte zunehmend in diese Region hineinstossen: Die Türkei im Südkaukasus und China in Zentralasien fordern die russische Machtposition heraus. Am Ende müssen sie sich aber trotzdem mit Russland einigen – und umgekehrt. Dieser Prozess schreitet voran, er kann aber noch Jahrzehnte dauern. Letztlich bedeutet er einen schleichenden Machtverlust für Russland.
Die Entwicklung im postsowjetischen Raum kann unsere gesamte Nachbarschaft durch Kriege und Fluchtbewegungen destabilisieren.
Bedeutet diese Entwicklung auch eine Destabilisierung der Region?
Absolut. Europa muss sich darum Sorgen machen. Die Region wird viel instabiler werden. Russland ist nicht mehr dazu in der Lage, diese autoritäre Stabilität militärisch zu unterfüttern. Es wird neue regionale Ordnungen geben, die neu ausgehandelt werden. Wie wir es derzeit im Südkaukasus sehen, geschieht das vor allem auch militärisch.
Wenn wir hier als Europäer nicht auch Normen setzen und uns mit Friedensmissionen und Verhandlungen engagieren, werden es autoritäre Staaten sein, die um die Vormachtstellung in der Region konkurrieren. Es ist deprimierend zu sehen, wie reaktiv wir sind. Diese Entwicklung kann unsere gesamte Nachbarschaft durch Kriege und Fluchtbewegungen destabilisieren.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.