Am frühen Abend ist es ruhig auf dem monumentalen Platz der Republik im Zentrum von Eriwan, wo der Hauptsitz der armenischen Regierung steht. Alte Menschen und junge Paare schlendern hin und her, geniessen ihren Sonntagabend. Doch an einem Ende des Platzes stehen Hunderte Bereitschaftspolizisten. Gegenüber sitzen ein paar Dutzend Menschen vor dem Gebäude der armenischen Post. Sie bereiten sich auf eine weitere Demonstration vor.
Der Bergkarabachkonflikt beschäftigt die Menschen. «Man muss unsere Armenier dort herausholen», sagt eine Frau, der beim Reden Tränen in die Augen steigen. «Innerhalb des Staates Aserbaidschan könnten Armenier nicht leben», sagt sie. Sie hat Angst, aserische Truppen könnten in Karabach ein Massaker veranstalten. Sie nimmt Bezug auf aserische Gräueltaten im letzten Karabachkrieg im Jahr 2020. Aktuelle Berichte von Menschenrechtsverletzungen in Karabach sind allerdings noch unbestätigt.
Wenn den Armenierinnen und Armeniern in Karabach jetzt etwas passiere, sagt die Frau, müsse das auf dem Gewissen der russischen Friedenstruppen lasten. Russland galt einst als Schutzmacht Karabachs. In Armenien äusserten auch Putin-Kritiker dafür eine gewisse Dankbarkeit. Das ist jetzt vorbei.
Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan sagte, für die armenische Bevölkerung in Karabach gebe es eine Zukunft in Aserbaidschan, das ist für einige ein Grund, seinen Rücktritt zu fordern. Das will auch Maryam, deren Schwester im umzingelten Karabach eingeschlossen ist.
Die Zeit sei aber zu knapp für eine Revolution. Sie fordere deswegen von Paschinjan, mit Aserbaidschan und der Türkei um die Sicherheit der Menschen in Karabach zu verhandeln. Tatsächlich tut dies Paschinjan seit Wochen, verzweifelt, bislang aber ohne konkretes Ergebnis.
Nicht alle befürworten den Protest auf dem Platz der Republik. Vor laufendem Mikrofon will niemand darüber sprechen, aber die Forderungen nach einer Revolution gegen Premier Paschinjan schrecken viele ab. Nikol Paschinjan gilt als erster demokratischer Anführer von Armenien. Viele Armenierinnen und Armenier schätzen diese Demokratie und wollen keine Rückkehr zur korrupten ehemaligen Elite, die bei den Protesten ihre Hand im Spiel haben soll.
Einen Putsch gegen Paschinjan will die 18-jährige Melanie nicht. Trotzdem ist sie zum Protest erschienen. «Ich bin aus Stepanakert in Karabach. Meine ganze Familie ist dort. Ich bin zum Studieren nach Eriwan gekommen. Ich bin ganz alleine da. Ich will einfach, dass meine Familie zu mir kommen kann und in Sicherheit ist.» Zwei Stunden später ist die Menge deutlich angeschwollen. Tausende Menschen stehen auf dem Platz der Republik. Eine weitere Nacht des Protests erwartet Eriwan.