Im Südkaukasus gab es diese Woche bei einem Militäreinsatz von Aserbaidschan gegen armenische Separatisten in der Region Bergkarabach Tote. Derzeit gilt eine Waffenruhe. Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik erklärt, wie die Situation derzeit aussieht.
SRF: Wie geht es den Menschen vor Ort?
Stefan Meister: Es herrscht eine katastrophale humanitäre Situation, keine Stromversorgung, die Lebensmittelversorgung ist ganz schwierig. Viele Menschen versuchen, sich in den Schutz der russischen sogenannten Friedenstruppen zu begeben, also sowohl am Flughafen Stepanakert als auch im Camp dieser Friedenstruppen. Sie hoffen auf eine Art Luftbrücke oder Korridor, um Bergkarabach Richtung Armenien verlassen zu können. Im Moment hausen sie dort unter ganz schwierigen Lebensbedingungen.
Wie gross ist die armenische Bevölkerung in Bergkarabach?
Offiziell sind es 120'000. Inoffiziell, soweit ich das auch aus armenischen Quellen kenne, bis zu 70'000. Also viele Menschen, aber eben nicht die offiziell genannten 120'000.
Wie begründet ist die auf armenischer Seite bestehende Angst vor ethnischen Säuberungen?
Ich denke schon, dass das in einer gewissen Form begründet ist. Es gibt ja diesen Hass zwischen Armeniern und Aserbaidschanern.
Das Ziel ist, die Armenier aus der Region rauszupushen, möglicherweise teils auch zu töten.
Es gibt diese Rachegefühle von aserbaidschanischer Seite für den ersten verlorenen Karabach-Krieg Anfang der 90er-Jahre und die folgenden 30 Jahre, in denen man dieses Gebiet nicht kontrollieren konnte. Ich denke, das Ziel der Aserbaidschaner ist letztlich, die Karabach-Armenier aus der Region rauszupushen, möglicherweise teils auch zu töten. Und es wird vor allem die männliche Bevölkerung treffen.
Was ist an der Argumentation einer Antiterroraktion aufseiten Aserbaidschans dran?
Das hier ist ein Krieg, der über Monate vorbereitet wurde. Man hat Waffen gekauft. Man hat das Gebiet sozusagen abgekoppelt, die Leute ausgehungert, auch psychologisch unter Druck gesetzt. Und jetzt hat man zugegriffen und das Gebiet erobert.
Es hat damit zu tun, dass man von Moskau das Okay bekommen hat.
Das hat nichts mit einer Antiterrormassnahme zu tun, sondern damit, dass man nach dem gewonnenen Karabach-Krieg im Jahr 2020 jetzt zugreift und von Moskau das Okay bekommen hat, die Region unter Kontrolle zu bekommen.
Bisher hat Russland mit eigenen Truppen in Bergkarabach für Ruhe gesorgt. Aber jetzt lässt es Armenien fallen. Was ist passiert?
Russland hat immer mit beiden Seiten kooperiert, das muss man ganz klar sagen. Es hat an beide Seiten Waffen verkauft und es hat nie wirklich eine Seite massgeblich unterstützt. Aber es ist offensichtlich, dass jetzt, mit dem grossen Krieg gegen die Ukraine, sich die russischen Interessen verändert haben. Moskau braucht neue Transitkorridore, es braucht Korridore auch zur Umgehung von westlichen Sanktionen. Und gerade das Gebiet über Aserbaidschan ist ganz wichtig für Moskau geworden, weil das der Zugang zum Iran, zu Indien und teils auch zum wichtigen Verbündeten Türkei ist. Und die Türkei ist ein enger Verbündeter von Aserbaidschan. Das geht letztlich auf Kosten der Armenier.
Wie geht es weiter?
Es gibt ja Verhandlungen zwischen den Separatistenführern und der aserbaidschanischen Seite. Da scheint bisher noch nicht wirklich etwas herausgekommen zu sein. Ich denke, die Lebensbedingungen für die Menschen werden so schlecht, dass die Mehrheit einfach freiwillig gehen wird. Ich befürchte auch, dass noch mehr Menschen umkommen werden in den nächsten Wochen.
Das Gespräch führte Romana Kayser.