Auf der Anhöhe stehen gut drei Dutzend Männer vor einer Strassensperre der armenischen Polizei. Sie blicken besorgt in die Ferne, wo sich die Strasse nach Karabach durch die Berge windet. Oder ihre Augen folgen den Fahrzeugen, die in Konvois die Sperre passieren und Menschen nach Armenien in Sicherheit bringen.
Die Wartenden sind aus ganz Armenien angereist, um ihre Verwandten hier zu empfangen.
«Unsere Schwiegertochter ist aus Karabach», sagt ein Mann, der aus der Stadt Aparan angereist ist, etwa fünf Autostunden von hier. «Sie sind jetzt unterwegs, ihre Eltern, ihr Bruder, seine Familie mit kleinen Kindern. Sie fahren auf einem Muldenkipper hierher».
Die Menschen aus Karabach kommen in allen möglichen Gefährten an: Lastwagen, kaputte Autos, die von Lastwagen gezogen werden, sogar Bagger. Sie sehen erschöpft aus, viele haben die letzten Tage in Kellern verbracht, aus Angst vor aserbaidschanischem Beschuss. Zuvor blockierte Aserbaidschan neun Monate lang die Versorgung der Region, Essen, Benzin und Medizin wurden knapp.
Geburt im Schutzkeller
In der nächsten Kleinstadt Goris werden die Ankömmlinge im Theatergebäude medizinisch versorgt und verpflegt. Überall in der Stadt stehen Leute vor ihren Autos und warten, viele wissen nicht, wo sie hinsollen.
So auch Rafik Parsadanjan. Wie vielen fällt es ihm schwer, die letzten Tage zu beschreiben. «In Worten ist es sehr schwer zu erklären», sagt der 39-Jährige. Er erwähnt den Beschuss der karabachischen Hauptstadt Stepanakert, dass eine Frau im Keller ein Kind geboren habe. «Aber das kann man nicht beschreiben, nicht mal in patriotischen Liedern. Das versteht man nur, wenn man es durchlebt hat.»
Angst vor Aserbaidschan
Viele sprechen von der enormen Angst, als sie von aserbaidschanischen Truppen umzingelt waren. Sie erwähnen die Gräueltaten des letzten Karabachkriegs 2020 und wissen, dass die aserbaidschanische Propaganda unaufhörlich gegen Armenierinnen und Armenier hetzt und Rache dafür verspricht, dass die Aserbaidschaner einst selbst aus Karabach vertrieben wurden.
Wir glauben den Aserbaischanern nicht.
Doch jetzt sagt Aserbaidschan, die armenische Bevölkerung könne friedlich reintegriert werden. «Wir glauben ihnen nicht», sagt Flora Baghramjan. Wegen dieser Angst hat die pensionierte Schulrektorin ihr Haus zurückgelassen, ihre Kühe, ihre Hühner.
Enttäuschung und Wut
Viele kritisieren die internationale Gemeinschaft, die russischen Friedenstruppen und den armenischen Staat, die allesamt untätig geblieben seien und das Ende der jahrhundertealten armenischen Präsenz in Karabach zugelassen hätten. Doch Rafik Parsadanjan fragt sich, was der Kampf um diese Präsenz gekostet hat.
So viele meiner Verwandten sind in den Kriegen gestorben. Was hat mir das gebracht? Nichts. Ausser Schmerz.
«Mit 18 Jahren starb mein Bruder im ersten Karabachkrieg», sagt er. «Wofür? 30 Jahre lang lebten wir im Krieg. Die Leute haben trotzdem Familien gegründet, Häuser gebaut. Wo stehen diese Häuser jetzt? So viele meiner Verwandten sind in den Kriegen gestorben. Was hat mir das gebracht? Nichts. Ausser Schmerz.»