Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat Finnland und Schweden aufgerüttelt. Nach jahrzehntelangen Diskussionen treiben sie nun ihren Beitritt zum westlichen Militärbündnis voran. Von Berlin über London bis nach Washington werden sie mit offenen Armen empfangen – nur aus Ankara kommen Misstöne.
Die Türkei knüpft ihr Ja zu einem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens an Bedingungen. Der Grund für die Vorbehalte: Finnland und Schweden würden terroristischen Organisationen wie der kurdischen PKK Unterschlupf gewähren.
Thomas Seibert, freier Journalist in der Türkei, beobachtet die Vorgänge – und kommt zum Schluss: Die scharfe Rhetorik zielt vor allem auf ein innenpolitisches Publikum ab, und ein türkisches Veto gegen die skandinavischen Nato-Beitritte wird es kaum geben. «Die türkische Regierung bemüht sich seit dem Wochenende, die Maximalforderungen von Präsident Erdogan wieder einzufangen», sagt Seibert.
Kraftmeierei fürs heimische Publikum
Ein Berater von Erdogan liess verlauten, die Türkei habe die Tür die für die Nato-Beitritte der nordischen Länder nicht zugeschlagen. Aussenminister Mevlüt Cavusoglu forderte derweil Garantien, was den Umgang Finnlands und Schwedens mit der PKK angeht. «Von einer Ablehnung der nordischen Nato-Beitritte ist inzwischen aber überhaupt keine Rede mehr», so Seibert.
In einem Jahr stehen in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Erdogan ist dabei in die Defensive geraten. Die Kraftmeierei auf internationalem Parkett bietet ihm nun Gelegenheit, seine Position zu stärken. Seibert erklärt: «Das Thema Nato und der Westen insgesamt eignet sich in der Türkei sehr gut, um nationalistische Wähler zu begeistern.»
Erdogan braucht etwas, das er innenpolitisch als Erfolg verkaufen kann. Erdogan möchte sagen können, dass er die Nato in die Knie gezwungen hat.
Erdogan befeuert dabei auch althergebrachte Ressentiments gegenüber dem ungeliebten Nachbarn und Nato-Partner. So bezeichnete er die Aufnahme von Griechenland in die Nato in den 1950er-Jahren als historischen Fehler, der sich nun zu wiederholen drohe. Der Applaus in der Heimat ist dem türkischen Präsidenten sicher. «Inzwischen ist aber klar, dass das alles eher ein Bluff war. Denn die türkische Regierung rudert kräftig zurück.»
Nichtsdestotrotz: Mit der Kritik, die nordischen Länder würden «terroristischen Organisationen» Unterschlupf gewähren, ist es der Türkei ernst. Seit Jahren wirft Ankara diversen europäischen Ländern vor, nicht energisch genug gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vorzugehen.
Für Seibert ist aber klar: Zwischen den «substanziellen Sorgen der Türkei» und Erdogans Timing muss unterschieden werden. So scheint die Debatte um die nordischen Beitritte ein geeigneter Anlass, um innenpolitisch mit dem Dauerbrenner PKK punkten zu können.
Eine Geste für Erdogan
Die Türkei bringt sich beim Krieg in der Ukraine immer wieder als Vermittlerin ins Spiel. Die westlichen Sanktionen gegen Russland trägt sie nicht mit. Schliesslich sind die nordischen Nato-Beitritte Kreml-Chef Putin ein Dorn im Auge. Spielt dies in die türkische Skepsis hinein? Mehr als ein «Nebeneffekt» sind diese Faktoren für den deutschen Journalisten nicht.
Denn am Ende dürfte sich Erdogan mit einer Geste seitens Schweden und Finnlands zufriedengeben, glaubt Seibert. Eine solche könnte etwa die Ankündigung sein, verstärkt gegen die PKK vorzugehen. Auch ein Besuch des finnischen Präsidenten in Ankara könnte die Wogen glätten. «Erdogan braucht etwas, das er innenpolitisch als Erfolg verkaufen kann. Er möchte sagen können, dass er die Nato in die Knie gezwungen hat.»