SRF: Es gibt Stimmen, die sagen, die US-Gesellschaft ist so gespalten wie in den 60er Jahren. Können Sie diese drastische Aussage nachvollziehen?
Martin Thunert: Ich kann die Aussage subjektiv aus Sicht eines jungen Schwarzen nachvollziehen. Ich glaube aber, die amerikanische Gesellschaft ist heute eine ganz andere als früher. Wir haben heute nicht nur die Minderheit der 13 Prozent Schwarzen, sondern auch die der 17 Prozent Hispanics und auch der asiatischen Amerikaner. Die Gesellschaft ist also vielfältiger als damals – und ungleicher. Während die weisse Mittelschicht in den 60er Jahren zu mehr Wohlstand kam, konnte in den letzten 20 Jahren nur die obere Gesellschaftsschicht vermögender werden. Aus wissenschaftlicher Sicht ist also die US-Gesellschaft von heute nicht mit den 60er Jahren vergleichbar.
Aber es gibt einen tiefen Riss zwischen den jungen Schwarzen und dem Rest der US-Gesellschaft?
Das ist so. Viele Weisse und weisse Polizisten fühlen sich von jungen Schwarzen bedroht. Die Weissen unterstellen den Schwarzen, sie seien gewalttätig und bewaffnet. Wegen der laxen Waffengesetze müssen Polizisten einerseits damit rechnen, dass Leute bewaffnet sind. Andererseits verstärkten einige US-Städte ihre Polizeitruppen mit Menschen aus verschiedenen Ethnien. Allerdings passiert dies in den Vorstädten oder in den kleineren Städten kaum. Dort sind die Polizisten immer noch mehrheitlich weiss.
Wie ist es möglich, dass ausgerechnet nach acht Jahren mit einem afroamerikanischen Präsident die Lage derart eskaliert?
Obama hat als Präsident keinen Zugriff zu den lokalen Polizeitruppen. Ihm ist es zwar gelungen, die Wirtschaft anzukurbeln. Das hat auch den Schwarzen genutzt. Dennoch ist die Perspektivlosigkeit vieler junger Schwarzen, die zum Teil auch zu wenig ausgebildet sind, sehr hoch. Das hat Obama nicht ändern können. Auch beim Hauskauf, bei der Kreditvergabe oder der Bildung sind Schwarze nach wie vor benachteiligt. Viele von den Dingen, unter denen Schwarze leiden, sind unter lokaler oder bundesstaatlicher Verantwortung.
Die schwarzen Bürgerrechtler und die Rechte bekämpfen sich stärker als auch schon. Ein Pulverfass?
Das ist richtig, die Ränder radikalisieren sich. Der schwarze Mörder, der fünf Polizisten erschossen hat, versuchte, mit der New Black Panther Party Kontakt aufzunehmen und er hat in Internetforen verkehrt, in denen der Übergang zur Gewalt klein ist. Umgekehrt gibt es lokale Polizeibehörden im Süden, die sicher auch von rassistischen Polizisten durchdrungen sind. Jedes Ereignis wie das von Dallas bringt nicht etwa ein Umdenken, sondern unterstützt im Gegenteil das Narrativ von beiden Seiten. Ich sehe für eine Vermittlung zwischen den beiden Fronten im Moment nicht die beste Ausgangsposition, denn die Interessengruppen in den USA sind gefestigt.
Welche Rolle spielt bei dieser Eskalation der Präsidentschaftsanwärter Donald Trump, der verbal immer wieder Öl ins Feuer giesst?
Trump äussert sich weniger zum Schwarz-Weiss-Gegensatz in den USA, sondern er mobilisiert die unzufriedenen weissen Männer, mit nicht allzu hohem Bildungsgrad, die sich als Opfer der demokratischen Entwicklung und auch als Opfer einer Dienstleistungsökonomie sehen, in der die Handwerkerjobs verloren gehen. Diese Weissen sehen sich als Opfer der Einwanderer ganz allgemein.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.