Demokraten müssten eigentlich für eine Volksabstimmung sein. Aber mit der Abstimmung über die neue russische Verfassung ist etwas faul, wenn man Nikolaj Rybakow glaubt, dem Chef der liberalen Jabloko-Partei. «Das Vorgehen der Regierung ist verfassungswidrig», sagt er.
Harte Worte vom Chef einer sonst besonnenen Partei. Jabloko, die älteste demokratische Kraft Russlands, wird die Verfassungsabstimmung boykottieren. Rybakow kritisiert, bei der Vorlage gehe es nur darum, «dass Putin für immer an der Macht bleiben darf.» Tatsächlich kann der Präsident mit der neuen Verfassung bis 2036 weiter regieren.
«Es gibt niemanden, der Putin ersetzen kann»
Allerdings teilen nicht alle diese Kritik. Szenenwechsel: In einem Einkaufszentrum im Provinzstädtchen Serpuchow haben Sergej und Mohamed gerade ihren Stand eingerichtet. «Unser Land, unsere Verfassung, unsere Entscheidung», steht auf einem grossen Plakat. «Wir haben hier Informationen über alle Verfassungsänderungen», sagt Sergej und zeigt auf Flugblätter. «Für würdige Renten» – «Für eine gute medizinische Versorgung» – «Für die Rechte von Arbeitern». Das sind die Losungen.
Sergej und Mohamed sind «Freiwillige der Verfassung». So nennt sich eine staatsnahe Jugendorganisation, die hinter der Abstimmungskampagne steht. «Wir sind nicht da, um für oder gegen die neue Verfassung zu werben. Wir liefern nur Informationen.»
Es ist eine Neutralität, die nur auf dem Papier existiert. Denn natürlich ist Sergej, der für die Stadtverwaltung von Serpuchow arbeitet, für die neue Verfassung. Und wie ist es mit der Regelung, dass Präsident Putin bis 2036 weiter regieren darf? Sergejs Kollege Mohamed: «Wladimir Putin ist mein Präsident. Es gibt niemanden, der ihn ersetzen kann.»
Keine Nein-Kampagne
Es gehört zu den Besonderheiten dieser Volksabstimmung, dass es nur diese offiziöse Kampagne für die neue Verfassung gibt. Eine Nein-Kampagne gibt es nicht, dies sei rechtlich nicht vorgesehen, argumentieren die Behörden. Demokratische Fairness sieht anders aus.
Doch trotz der einseitigen Information sind viele im Volk skeptisch. Zum Beispiel zwei junge Mädchen, die vor Sergejs und Mohameds Stand Handyfotos machen – und mit den Daumen nach unten zeigen. «Wir sind gegen die Verfassung», sagen die beiden.
Sie vermuten, dass die zahlreichen Änderungen nur vorgeschoben sind, um Putins Griff nach einer ewigen Regentschaft zu verschleiern. Die beiden Teenager bringen den Kern der Abstimmung auf den Punkt: Geht es nur um Putins Herrschaft – oder ist es eine sinnvolle Reform der Verfassung?
Ein Mann um die 50 unterstützt die Vorlage, obwohl er die Details nicht kennt. «So genau weiss ich das nicht, aber ich bin dafür. Ich vertraue unserem Präsidenten.»
Die Menschen wissen, dass es sowieso nicht sie sind, die die Entscheidungen fällen.
Umfragen regierungsnaher Institute sehen landesweit eine Mehrheit für die neue Verfassung. In Serpuchows Strassen scheint eine Mehrheit eher dagegen oder gleichgültig.
Die kritische Serpuchower Journalistin Julia Nikolaewa sagt über ihre Mitbürger: «Die meisten Leute sind apolitisch, denn es gibt einen tiefen Graben zwischen Staatsmacht und Gesellschaft. Die Menschen wissen, dass es sowieso nicht sie sind, die die Entscheidungen fällen.»
Das ist wohl das Problem: In einem Land, in dem seit 20 Jahren alle Macht im Kreml zusammenläuft, kann man nicht einfach so eines Tages eine Abstimmung machen – und glauben, man erfahre so den Volkswillen.