Wir kennen Putin. Seit über zwanzig Jahren regiert er Russland. Aber kennen wir auch den Putinismus? «Man kann mindestens drei Phasen des Putinismus erkennen. Das System hat sich in den letzten Jahrzehnten auf drei verschiedene Ideologien gestützt», sagt Konstantin Gaaze.
Der freischaffende Soziologe ist einer der schärfsten Politik-Beobachter in Russland. Er analysiert das Geschehen in und um den Kreml für diverse kritische Medien, unter anderem macht er einen viel beachteten Podcast für das Internet-Portal «Meduza».
Die «Ware Nationalstolz»
In einer ersten Phase sei der Putinsche Staat, sagt Gaaze, vor allem als Wohltäter aufgetreten: Er verteilte die üppigen Öleinnahmen grosszügig unter der Bevölkerung.
Im Jahr 2014 dann änderte sich das ideologische Koordinatensystem ein erstes Mal. Der Kreml versprach, nicht nur materiell für das Volk zu sorgen, er hatte auch die Ware «Nationalstolz» im Angebot.
2014 – das war das Jahr, als Russland die ukrainische Krim annektierte. Und es war auch das Jahr, als die russische Wirtschaft in eine Krise taumelte, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Seither sinken die Realeinkommen der Menschen fast ununterbrochen. Die Russinnen und Russen werden immer ärmer.
Verstärkte Repression
Und so ist die dritte Version des Putinismus entstanden. Der Staat sagt den Bürgern: Ihr wolltet doch ein grosses, mächtiges Russland – dann müsst ihr nun eben den Gürtel enger schnallen. Dieser jüngste Wandel des Systems Putin geht einher mit einer verschärften Repression.
«Es darf keine Kritik mehr geben an Wladimir Putin. Über einen Gouverneur oder Minister darf man noch ein kritisches Wort sagen. Nicht aber über den Präsidenten», sagt der Soziologe.
Wer politische Kritik übt, der wird ausgeschlossen – er oder sie ist nur noch Bürger, Bürgerin zweiter Klasse.
Ein Beispiel für die härtere Gangart des Staates: Das Parlament arbeitet derzeit gerade ein Gesetz aus, das zehntausende Russinnen und Russen von den Wahlen teilweise ausschliessen könnte – weil sie Kontakt hatten mit angeblich «extremistischen» Organisationen. Ihnen soll verboten werden für politische Ämter zu kandidieren.
Wobei der Staat den Extremismus-Begriff sehr breit fasst. Selbst Nawalny-Anhänger dürften bald in diese Kategorie gehören. «Wer politische Kritik übt, der wird ausgeschlossen – er oder sie ist nur noch Bürgerin oder Bürger zweiter Klasse», folgert Gaaze.
Reaktion auf wirtschaftliche Probleme
Die Verhärtung des innenpolitischen Kurses, diese neue Phase des Putinismus, hat viel mit wirtschaftlichen Problemen zu tun. Der Staat kann sich die einstige Rolle als Wohltäter nicht mehr leisten – vor allem wegen des tiefen Ölpreises. Deswegen wird die Repression gegen Andersdenkende verschärft.
Der Putinismus sei einzigartig, sagt Gaaze. Er beschreibt ein System, das sich ständig wandelt, sich ständig neu erfindet. Das einzige, was im Putinismus konstant bleibt, ist: Wladimir Putin.