Sie war ein Blick zurück: die Rede von Ursula von der Leyen zum Zustand der Europäischen Union in Strassburg. Die Präsidentin der EU-Kommission hat vor dem EU-Parlament in Strassburg vor allem vergangene Erfolge herausgestrichen.
Und das waren in ihrer bisherigen Amtszeit in erster Linie die Antworten auf diverse Krisen. Eine Jahrhundertpandemie und der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 haben Europa auf vielen Ebenen durchgeschüttelt: menschlich, wirtschaftlich oder sicherheitspolitisch. Insbesondere auf den Krieg in der Ukraine hat die sonst oft träge Europäische Union schnell reagiert. Trotz gelegentlicher Störmanöver aus Ungarn tritt die EU bis heute sehr geeint auf, wenn es um Unterstützung für die Ukraine geht. Das ist auch ein Verdienst der Kommissionspräsidentin.
Den sogenannten «Green Deal» als europäische Antwort auf den Klimawandel kann von der Leyen ebenfalls als Erfolg abbuchen, auch wenn die Umsetzung des Gesetzesprojektes, mit dem die EU bis 2050 die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null reduzieren will, zuletzt etwas ins Stocken geraten ist.
Als Krisenmanagerin bewährt
Als Krisenmanagerin hat sich Ursula von der Leyen bewährt. Doch jetzt wäre es an der Zeit, dass sich die EU für die Zeit nach der Zeitenwende aufstellt, die der russische Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat. Diese Zeit ist geopolitischer als die Zeit davor und es ist offen, ob die EU dafür bereit ist.
Wie soll eine Organisation geopolitischer agieren können, in der jedes der 27 Mitgliedsländer aussenpolitische Entscheide mit seinem Veto blockieren und monate- bis jahrelang verzögern kann? Wie kann die EU Länder wie die Ukraine, die Moldau oder die Staaten des Westbalkans stärker an sich binden und so zur Stabilität auf dem Kontinent beitragen? Wie will die EU im wirtschaftlichen Wettbewerb mit den USA und China langfristig bestehen? Es sind entscheidende Zukunftsfragen für die von Ursula von der Leyen propagierte «geopolitische EU».
Probleme erkannt, Lösungsideen fehlen
All diese Punkte hat Ursula von der Leyen in ihrer Rede angesprochen: das geopolitische Denken und Handeln, die Wettbewerbsfähigkeit, die Erweiterungsfrage. Sie hat die Probleme also erkannt.
Doch konkrete Lösungsansätze sucht man in ihrer Rede vergebens. Sie sagt zwar beispielsweise, dass sich die EU erweitern müsse, aber sie sagt nicht, wie das gelingen kann. Gewiss, die Fragen sind gross. Sie können nicht in einer Grundsatzrede vor dem EU-Parlament abschliessend beantwortet werden. Auch ist die Macht der EU-Kommission und ihrer Präsidentin beschränkt. Am Ende sitzen die Mitgliedstaaten in der EU am längeren Hebel.
Was eine Kommissionspräsidentin aber kann: Sie kann die Richtung vorgeben. Sie kann Ideen und Gesetzesvorhaben lancieren und so Reformprozesse anstossen. Die Rede in Strassburg hätte Gelegenheit dazu geboten. Doch Ursula von der Leyen hat diese Gelegenheit mit ihrem Blick zurück verstreichen lassen. Und so bleibt offen, in welche Richtung Ursula von der Leyen die EU zu steuern gedenkt, sollte sie – wie von vielen erwartet – im kommenden Sommer zu einer weiteren Amtszeit antreten.