Grossbritannien wählt am 4. Juli ein neues Parlament. Vor fünf Jahren kam es zum grossen Erdrutschsieg der Konservativen. Den Norden Englands eroberte der damalige Premierminister Boris Johnson damals mit dem Versprechen, die vernachlässigte Provinz aufzuwerten. Auch die Wählerinnen und Wähler der ehemaligen Kohlenminenstadt Bishop Auckland glaubten ihm. Was aus dem Versprechen wurde, zeigt ein Blick vor Ort.
Von der Politik vernachlässigt
Wenn der rostige Dieselzug, der Bishop Auckland mit dem Rest der Welt verbindet, beschleunigt, scheppert es, als würde dieser ins All abheben. Die Reise endet jedoch auf dem einzigen Perron eines Provinzbahnhofs.
Ein Wandbild im Wartesaal zeigt den berühmtesten Sohn der Stadt. Der Komiker Stan Laurel hat hier einst das Licht der Welt erblickt.
Doch das Lachen ist dem Bahnangestellten Steven längst vergangen. «In dieser Stadt geht alles den Bach runter. Sogar der Caritas-Laden hat geschlossen. Mittlerweile kann man hier nicht einmal mehr tanzen. Weit und breit gibt es keine Disco. Einfach nichts.»
Ein Gang durch die Stadt bestätigt Stevens Schadensbilanz. Die Hauptstrasse ist gespenstisch still. Fast die Hälfte der Geschäfte sind geschlossen. Die leeren Schaufenster des «One-Pound-Shops» sind zerbrochen.
Vor dem Nagelstudio «Roxy Beauty» streiten sich Krähen um die Resten einer Pizza. Im Spielsalon «Happy Life» sitzen Frauen vor farbigen Glücksspielautomaten und kauen Popcorn. Männer findet man im Pub gegenüber. Sie sitzen stumm vor einem Glas Bier. Gesellschaft leistet ihnen das Lied der schwedischen Popgruppe Abba, «Fernando», dem vor lauter Kummer die Liebe abhanden kam.
Obdachlosigkeit und Alkoholprobleme sind Alltag
Wer den Kummer der Menschen in dieser Stadt verstehen will, besucht am besten das kirchliche Gemeindezentrum im Süden. Dort wird mittags eine unentgeltliche Mahlzeit serviert und immer mittwochs Lebensmittel-Bingo gespielt. Bei einer Tasse Kaffee können Menschen mit Geldsorgen ein Paket Teigwaren oder Reis gewinnen.
Für einige Stunden zusammen die Zumutungen des Alltags zu vergessen, sei wichtig, erzählt Anne Ramshaw, die Leiterin des Zentrums. «Obdachlosigkeit ist ein grosses Problem, häusliche Gewalt ebenso. Alkohol- und Drogenprobleme sind hier Alltag. Und Leute, die ihre Wasser, Strom- und Telefonrechnungen nicht mehr bezahlen können.»
Die Probleme seien seit den letzten Parlamentswahlen vor vier Jahren die gleichen geblieben, sagt die Sozialarbeiterin. Aber die Zahl der Hilfsbedürftigen habe sich seither verdreifacht.
Der damalige Premierminister Boris Johnson hat vor den letzten Wahlen zwar versprochen, die verwahrlosten Städte im Norden Englands aufzuwerten. Dieses Versprechen wurde augenscheinlich nicht erfüllt. Weshalb nun alles besser werden soll, erfährt Bishop Auckland abends im Pub.
Enttäuscht von Labour und Tories
In der ersten nationalen Fernsehdebatte Anfang Juni prallen Premierminister Rishi Sunak und Labour-Chef Keir Starmer live aufeinander.
Sunaks Botschaft ist klar. Nur seine Partei senke die Steuern und den Britinnen und Briten bleibe mehr Geld. 14-mal warnt er davor, dass unter Labour die Steuern dagegen um gut 2000 Franken steigen würden. Die Zahl entpuppte sich später zwar als unbelegt, doch Starmer reagierte erst beim zwölften Mal. Zu spät. Die 2000 Franken haben sich bereits in die Köpfe eingebrannt und sind am nächsten Morgen im Café an der Bondgate in Bishop Auckland Thema Nummer 1.
Rishi Sunak hat absolut nichts für uns getan. Und Keir Starmer wird auch nichts für dieses Land tun.
Landmaschinenmechaniker Bill hat von allem genug. Von den hohen Steuern, aber ebenso von der hohen Einwanderung. «Schauen Sie all die Migranten, die ins Land kommen. Niemand schützt unsere Grenzen. Die Spitäler sind voll. Die Leute werden auf den Korridoren behandelt. Züge und Busse sind unpünktlich. Die Läden in dieser Stadt geschlossen. Es bricht einem das Herz. Liz Truss hat das Land kaputt gemacht. Rishi Sunak hat absolut nichts für uns getan. Und Keir Starmer wird auch nichts für dieses Land tun. Ich weiss nicht mehr, wie es weitergehen soll.»
Während 100 Jahren sei die Antwort in dieser Minenstadt klar gewesen, meint Rentner Graham. Man habe Labour gewählt. «Wenn vor 50 Jahren Mickey Mouse für Labour kandidiert hätte, mein Vater hätte ihn ohne zu zögern gewählt, glauben Sie mir.»
Geben wir den Konservativen noch einmal fünf Jahre eine Chance und hoffen, dass die Leute hier wieder glücklich werden.
Doch Labour sei arrogant und träge geworden. Bei den letzten Wahlen hat Bishop Auckland erstmals die Konservativen gewählt. Und weil auch die Tories eine Enttäuschung waren, wollen Bill und Graham am 4. Juli allenfalls den Rechtspopulisten von Nigel Farage die Stimme geben.
Der parteilose Bürgermeister von Bishop Auckland, Sam Zahir, versucht zu beschwichtigen: «Während gerade mal fünf Jahren hatten wir nun eine konservative Abgeordnete. Doch Aufschwung benötigt Zeit. Es gibt viele Pläne. Der Bau eines Busbahnhofs hat bereits angefangen. Geben wir den Konservativen noch einmal fünf Jahre eine Chance und hoffen, dass die Leute hier wieder glücklich werden.»
«Good times. Coming soon!» steht draussen auf einem Plakat der britischen Regierung. Egal, wer am 4. Juli in Downing Street einziehen wird: Den Menschen in Bishop Auckland wäre es zu gönnen, dass sich die Durchhalteparolen bald materialisieren würden.