Sein ganzes Leben lang habe er in der Türkei nie so viel Armut gesehen wie in diesen Tagen, sagt Atilla Yesilada. Der 60-jährige Wirtschaftsexperte hat düstere Prognosen für die nächsten Monate: 15 Prozent Zins auf Sparguthaben stünden gegen 20 Prozent Inflation. Wer bei der Lira bleibe, habe schon verloren.
Das sind nur die offiziellen Angaben. Laut Umfragen liegt die Teuerung in der Alltagserfahrung eher bei 50 Prozent. Folge sei eine tektonische Verschiebung, sagt Yesilada: Das Vermögen in der Türkei werde gerade in harte ausländische Währungen umgetauscht, oder in Häuser und Autos.
Erdogans Traum
Dennoch hält Erdogan stur an seiner Tiefzinspolitik fest und entlässt lieber Zentralbankchefs und Minister. Offenbar in der Hoffnung, irgendwann erschöpfe sich die Flucht aus der Landeswährung und die spottbillige Lira verlocke Unternehmen zu massiven Investitionen.
Auch Teil des präsidialen Kalküls: Je schwächer der Kurs zum Dollar oder Euro, desto billiger die türkischen Produkte im Ausland. Tatsächlich erreichten die Exporte im November historische Rekorde. Auf dem Papier scheint Erdogan also recht zu behalten.
Die Realität
Doch die Türkei werde nicht per Federstrich zur exportgetriebenen Volkswirtschaft, stellt Yesilada fest. Denn im Schnitt enthält ein türkisches Exportprodukt 50 Prozent ausländische Einzelteile – die in Dollar oder Euro bezahlt werden müssen.
Den türkischen Unternehmen drohen Kosten: Um die Teuerung abzufedern, wird der staatliche Mindestlohn angehoben werden. Das hilft etwas gegen die Not, schlägt aber bei den Firmen negativ zu Buche. Die stark gestiegenen Preise für Strom und Gas sind da noch gar nicht mitgerechnet.
Der wachsende Unmut
Für ein Umdenken Erdogans hat Yesilada keine Hinweise. Doch selbst bei seinen konservativen Stammwählerschichten auf dem Land und in den Vorstädten bröckelt der Glaube. Sie leiden besonders stark, und die Schlangen vor den Ausgabestellen für subventioniertes Brot werden immer länger.
Gegen 60 Prozent der Bevölkerung gäben an, ihr Einkommen reiche gerade noch für das Nötigste, so Yesilada: «Was, wenn der Winter so richtig einbricht? Millionen werden sich fragen müssen: ausreichend heizen oder ausreichend essen?» Daraus könnten sich schon bald Massendemonstrationen entwickeln, wie zu Zeiten der Gezi-Proteste, glaubt Yesilada.
Wird Erdogan dann die Demokratie vollends aushebeln, um seine Herrschaft alternativlos erscheinen zu lassen? Solche Szenarien werden in der Türkei bange diskutiert. Yesilada glaubt nicht daran. Das ist die gute Nachricht fürs neue Jahr, die er wagt: Erdogan könnte zwar den Notstand ausrufen – und damit die Wahlen aufschieben. Doch wenn er nicht zu einer neuen Wirtschaftspolitik finde, werde der Unmut trotzdem wachsen, gerade unter seinen Gefolgsleuten.
Der Hoffnungsschimmer
Soll Erdogan dann die Armee auf seine Basis schiessen lassen? Würden die Generäle da überhaupt mitmachen? Auch daran glaubt Yesilada nicht. Die Türkei sei kein Land, in dem die Generäle bis zum Äussersten zum Staatschef halten müssten, weil nur er ihnen Vorteile sichern würde.
Und schon gar nicht zu einem Staatspräsidenten wie Erdogan, der die Aura des Siegers verloren habe. Yesilada glaubt stattdessen an die demokratische Wende und vorgezogene Neuwahlen schon 2022. Neuerdings zeige die Opposition einen seit 30 Jahren nicht mehr erlebten Zusammenhalt.