Noch vor einem halben Jahr galt es in den Korridoren von Westminster als Binsenwahrheit, dass der ewige Herausforderer und Prätendent, Boris Johnson, von seinen 312 Fraktionskollegen nicht für das Amt des Premierministers vorgeschlagen würde.
Er galt als unbeliebt, allzu egoistisch, allzu unberechenbar und charakterlich dubios. Doch als die Frage dann gestellt wurde, flogen ihm – wenn nicht die Herzen, so doch die Stimmen zu.
Eigennutz bewegte die Abgeordneten; mit Boris auf dem Wahlplakat könnten sie womöglich ihren eigenen Sitz retten. Die Gunst der erzkonservativen Basis war und ist Boris ohnehin gewiss.
So weit so gut. Aber es brauchte zwei Namen auf dem Stimmzettel, und sei es auch nur, damit alles seine Ordnung habe. Als die Spinner und die hoffnungslosen Fälle einmal ausgesiebt waren, blieben vier Männer übrig, die gegen Boris hätten antreten können.
Kein mutiger Entscheid
Die Abgeordneten hätten sich für den linkischen Aussenseiter Rory Stewart entscheiden können, den ehemaligen Gouverneur einer irakischen Provinz, weitgereist und fest in der realistischen politischen Mitte verankert. Das wäre mutig gewesen.
Oder sie hätten sich für den Sohn eines Buschauffeurs aus Pakistan entscheiden können, Innenminister Sajid Javid, der zuvor Millionengeschäfte in der City eingefädelt hatte. Das wäre mutig gewesen.
Oder sie hätten den zweiten Akt einer griechischen Tragödie inszenieren können, indem sie Landwirtschaftsminister Michael Gove auf den Schild hoben. Gove, ein kreativer Reformer, dem niemand über den Weg traut, hatte vor drei Jahren im letzten Moment die Kandidatur von Boris Johnson meuchlings sabotiert. Das wäre zum mindesten unterhaltsam gewesen.
«Theresa May in Hosen»
Doch die Abgeordneten hatten keine Lust, mutig oder unterhaltsam zu sein bei ihrer Suche nach dem Mann, der nicht Boris ist. Und so fiel ihre Wahl auf Jeremy Hunt, gegenwärtig Aussen-, vormals Gesundheitsminister, der wahlweise als «Theresa May in Hosen», als Schaufensterpuppe oder als Filialleiter eines Supermarktes verspottet wird.
Hunt besuchte zwar wie Boris eine Privatschule und Oxford, aber er ist im Gegensatz zum Alleinunterhalter Johnson gänzlich kontur- und farblos. Er unterscheidet sich ferner von Boris, indem er einigermassen sachkundig ist und seine Hausaufgaben macht.
Durch seine Überzeugungen indessen, seine Ziele oder seine provokanten Ansichten ist er bislang nicht aufgefallen. Die perfekte Besetzung also für die Rolle, die ihm auf den Leib geschrieben ist: Der Mann, der nicht Boris ist.