Mit der Wahl von Ursula von der Leyen zur ersten Präsidentin der Europäischen Kommission steht, wieder einmal, das «Demokratiedefizit» der EU zur Debatte. Tatsächlich war von der Leyen keine Spitzenkandidatin bei der letzten Wahl des EU-Parlaments. Die Wählerinnen und Wähler in den 28 EU-Staaten hatten sie nicht auf ihren Wahlzetteln.
Doch wer strenge Massstäbe anlegt, findet in vielen Demokratien ein «Demokratiedefizit». Kommende Woche bestimmen in Grossbritannien die bloss 160’000 Mitglieder der Konservativen Partei, wer neuer Premierminister des Landes wird. Die übrigen 66 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Grossbritanniens haben nichts zu sagen. In den USA wurde Donald Trump Präsident, obwohl seine Herausforderin Hillary Clinton mehr Stimmen geholt hat.
Und in der Schweiz wählt nicht das Volk, sondern das Parlament neue Bundesräte; meist hält es sich dabei an die offiziellen Vorschläge der Bundesratsparteien. Niemand würde deswegen die Demokratie in Grossbritannien, den USA oder der Schweiz in Frage stellen.
Viele andere Defizite in der EU
Dabei gibt in der EU durchaus viele Defizite, die bemängelt werden können. Das Fehlen einer strikten Gewaltentrennung gehört dazu, auch die oft unklaren Verantwortlichkeiten. Und es ist auch verständlich, dass die Wahl von Ursula von der Leyen für Irritationen und Frustrationen sorgt.
Es war nun einmal schier unmöglich, einen Kandidaten zu finden mit Chancen auf jene erforderliche doppelte Mehrheit, die notabene die EU-Staaten gemeinsam in den EU-Verträgen festgelegt haben: eine Mehrheit sowohl im Europäischen Rat mit den 28 Staats- und Regierungschefs als auch im EU-Parlament mit den rund 750 Abgeordneten.
Viele Gräben innerhalb der EU
Denn die EU wird politisch immer unübersichtlicher. Es gibt ideologische Gräben zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Und es gibt mehr unterschiedliche und neuartige Parteien, die erfolgreich um die Gunst der Wähler buhlen, die Dominanz der grossen alten Volksparteien ist am Ende. Ähnliche Entwicklungen sind in vielen westlichen Demokratien zu beobachten.
Die wirkliche Herausforderung besteht darin, als Präsidentin oder Präsident möglichst viele Bürgerinnen und Bürger für die eigene Politik zu gewinnen – für von der Leyen in der EU genauso wie andernorts.