Seit Montag ist in Italien die Wahl eines neuen Staatspräsidenten im Gang. Dass eine Frau in das Amt gewählt werden könnte, glauben nicht viele. In den vergangenen 75 Jahren amtierten in Italien zwölf Staatspräsidenten und 30 Regierungschefs – allesamt Männer. ARD-Korrespondentin Elisabeth Pongratz in Rom führt diese Tatsache auch auf kulturelle Gründe zurück.
SRF News: Wieso haben es Frauen so schwer, in Italien in Spitzenämter gewählt zu werden?
Elisabeth Pongratz: Es sind durchaus viele Frauen in der Politik aktiv und manche haben auch wichtige Positionen inne – etwa Justizministerin Marta Cartabia oder Innenministerin Luciana Lamorgese. Und auch in den Unternehmen werden Frauen in leitenden Funktionen immer wichtiger.
Manche Frauen beklagen das kulturelle Verständnis in Italien.
Allerdings beklagen Frauen das kulturelle Verständnis in Italien. Es gebe eine gläserne Decke, an die sie stossen würden, sagen sie. Grundsätzlich ist Italien strukturell noch sehr konservativ geprägt: Die Frau kümmert sich um Familie und Kinder, der Mann macht Karriere. Zwar ändert sich dieses Verständnis nach und nach, und alle sind sich einig, dass eines Tages eine Frau Staatspräsidentin oder Ministerpräsidentin werden wird – aber noch nicht jetzt.
Italien kennt eine Frauenquote im Parlament von einem Drittel – da sollten doch viele fähige Frauen bereitstehen?
In der Tat sind die Frauen gut ausgebildet, an den Universitäten sind sie in der Mehrheit. Doch viele von ihnen verlassen das Land. Sowieso kämpft Italien mit einem sogenannten Braindrain – gut ausgebildete junge Leute suchen ihr Glück im Ausland, wo sie sich bessere Löhne und Aufstiegschancen versprechen.
In Entscheidungspositionen sind Frauen krass unterverteten.
Doch tatsächlich engagieren sich immer mehr Frauen in der Politik, doch in Entscheidungspositionen, beispielsweise in den Regionen, sind sie weiterhin krass untervertreten. So gibt es derzeit keine einzige Regionalpräsidentin in ganz Italien. Und auch in der breit abgestützten Regierung von Ministerpräsident Mario Draghi sind weniger Frauen als Männer.
Sie haben kürzlich mit der früheren italienischen Parlamentspräsidentin Laura Boldrini über das Thema gesprochen. Was sagt sie?
Als Parlamentspräsidentin hatte Boldrini während fünf Jahren bis 2018 das dritthöchste Amt im italienischen Staat inne – und musste sexistische Angriffe über sich ergehen lassen. So wurde sie etwa vom Chef der rechtspopulistischen Lega, Matteo Salvini, mit einer Gummipuppe verglichen.
Die Parlamentspräsidentin musste sexistische Angriffe über sich ergehen lassen.
Und Beppe Grillo, der Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung, schrieb auf Facebook: «Was würdet ihr tun, wenn die Boldrini allein mit euch im Auto sässe?» – ein eindeutig sexistischer Angriff auf die damalige Parlamentspräsidentin Italiens. Sie beklagte in dem Gespräch, dass solche Aussagen in Italien toleriert würden – und es dagegen kaum richtigen Widerstand gebe. Zwar hätten sich einige über die Angriffe aufgeregt, doch solche Angriffe könnten ohne Konsequenzen als politische Waffe eingesetzt werden.
Welche Chancen sehen Sie bei der laufenden Staatspräsidentenwahl, dass eine Frau in das Amt gewählt werden könnte?
Es sind tatsächlich einige Namen von Frauen mit im Spiel, beispielsweise jener der aktuellen Senatspräsidentin Maria Elisabetta Alberti Casellati. Was die Wahl angeht, ist derzeit alles völlig offen, man rechnet frühestens am Donnerstag mit einem Wahlergebnis – dann ist bloss noch die absolute Mehrheit der Stimmen für die Wahl nötig. Doch die wenigsten rechnen damit, dass schon diesmal eine Frau ins Staatspräsidentenamt gewählt wird.
Das Gespräch führte Roger Aebli.