Am Wochenende wählt Afghanistan zum ersten Mal seit 2010 ein neues Parlament – und das auf den letzten Drücker. Seit 2015 werden die Wahlen immer wieder verschoben. Wählen in Afghanistan ist gefährlich, die Sicherheitslage ist prekär. Immer wieder kommt es zu Anschlägen. Die Taliban haben gesagt, sie werden alles tun, um die Wahl zu blockieren. Thomas Gutersohn betont die Wichtigkeit der Wahlen; auch, weil der Legislative die Legitimation fehlt.
SRF News: Können im Land wegen der Sicherheitslage denn überhaupt Wahlen stattfinden?
Thomas Gutersohn: Die Wahlen werden stattfinden, die Wahlkommission hat nichts anderes gesagt. Ob die Sicherheitslage Wahlen überhaupt erlaubt – ich vermute nicht. Das hat der gestrige Anschlag gezeigt. Einer der bestbewachten Kommandeure Afghanistans, der Polizeichef von Kandahar, ist von den Taliban getötet worden. Wenn die Armee, die Polizei diese Person nicht schützen kann, dann ist schon fraglich, wie sie denn die Zivilbevölkerung schützen will.
Sie hat für den Wahltag 54'000 Sicherheitskräfte aufgeboten, weitere 10'000 sollen in Reserve sein. In Kabul werden 200 weitere Kontrollposten errichtet, und seit gestern darf man dort auch nicht mehr Motorrad fahren. Und trotz dieses riesigen Aufgebots bleibt die Sicherheit die grosse Frage für den morgigen Wahltag.
Die Wahlen müssen stattfinden?
Es gibt keine andere Wahl. Sie müssen vor den Präsidentschaftswahlen stattfinden, die nächsten Frühling abgehalten werden. Weil seit 2015 die Parlamentswahlen immer wieder hinausgeschoben wurden, ist das Parlament nicht durch das Volk legitimiert. Lediglich das Dekret des Präsidenten erlaubte es den bisherigen Parlamentariern weiterzuarbeiten.
Die Wahlen müssen jetzt stattfinden. Im wahrsten Sinne des Wortes: Koste es, was es wolle.
Die Amtszeit des Präsidenten läuft nächsten Frühling aus, und bevor beide Instanzen – Parlament und Regierung – ihre Legitimation im Volk verlieren, müssen diese Wahlen her. Und zudem bricht in Afghanistan der Winter ein, der bitterkalt ist. Über die Wintermonate ist es kaum möglich, Wahlen durchzuführen. Also müssen sie jetzt stattfinden. Im wahrsten Sinne des Wortes: Koste es, was es wolle.
Die Taliban machen immer wieder gezielt Attacken auf Parlamentskandidaten, es gibt auch Tote. Wer sind die rund 2500 Menschen, die sich trotzdem zur Wahl stellen?
Der Grossteil kandidiert zum ersten Mal. Von den Politikern, die jetzt im Parlament sitzen, stellen sich die allerwenigsten zur Wiederwahl. Und so wird es zwangsläufig zu einem Umschwung kommen im Parlament. Es bleibt aber abzuwarten, ob dieser Umschwung gut oder schlecht ist. Junge, neue Politiker bedeuten ja nicht automatisch, dass alles besser wird.
Von den Politikern, die jetzt im Parlament sitzen, stellen sich die allerwenigsten zur Wiederwahl.
Es kann sein, dass eine Generation von jungen fähigen Politikern ins Amt kommt. Es kann aber auch sein, dass einige einfach nur Platzhalter der alten Machthaber sind und sie somit nicht viel ändern werden. Sicherlich sind darunter auch viele Geschäftsmänner. Und so wie die Geschäfte laufen in Afghanistan, werden da sicherlich die einen oder anderen mehr ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen und nicht unbedingt jene der Bevölkerung.
417 Frauen kandidieren für das Parlament. Knapp ein Fünftel. Hat sich die Lage für Frauen im Land verbessert?
Es kandidieren dieses Mal nur geringfügig mehr Kandidatinnen für das Parlament als 2010. Damals waren es 408 Frauen. Die Frauen sind die Hoffnung und waren es auch damals. Aber ich vermute, sie haben die Hoffnungen derer, die sie gewählt haben 2010, auch nicht erfüllt. Man hat nicht gesehen, dass sich die Parlamentarierinnen in Frauenbelangen gegen die konservative Männer-Mehrheit im Parlament zusammengeschlossen haben.
Die Frauen sind die Hoffnung und waren es auch bei den letzten Parlamentswahlen.
Dennoch: Die Situation der Frauen hat sich verbessert, zumindest in den Städten. Das hat aber mehr mit der Regierung Hamid Karzais zu tun und mit den Förderprogrammen der Entwicklungshilfe als mit dem Parlament. Da hat sich in den letzten vier Jahren wirklich wenig getan.
Ziehen wir Bilanz: Was hat das Parlament bisher zustande gebracht?
Wenig bis gar nichts. Und das hat eben mit der Legitimationsfrage zu tun. Die Aufgabe des Parlaments ist es, die Regierung zu überwachen. Und wenn die Daseinsberechtigung des Parlaments nur auf einem Dekret des Präsidenten beruht, also auf just jener Instanz, die es eigentlich kontrollieren müsste, dann hat es wenig auszurichten. Die Checks and Balances funktionieren nicht in Afghanistan. Seit 2015 war das Parlament in wichtigen Entscheiden inexistent. Die Regierung entschied oft für sich allein. Und das entspricht keiner Demokratie.
Wenn die Wahlen morgen stattfinden, ist das an sich also schon ein Erfolg?
Ein Erfolg für wen – für die internationalen Geldgeber, für die Wahlkommissionen, die am Sonntag sagen können: Wir haben Wahlen durchgeführt? Vielleicht. Für die Bevölkerung wohl kaum. Sie riskiert ihr Leben, wenn sie morgen vor den Wahllokalen anstehen wird. Dennoch sind diese Wahlen wichtig. Afghanistan nennt sich eine Demokratie, und da müssen von Zeit zu Zeit Wahlen stattfinden. Offensichtlich auch dann, wenn das Umfeld für solche Wahlen in Sachen Sicherheit nicht gegeben ist.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.