Bei den Wahlen diese Woche in Nordirland ist ein historischer Regierungswechsel möglich. Umfragen deuten auf eine knappe Mehrheit der nationalistischen Sein Féin hin, nachdem die pro-britischen Unionisten gut 100 Jahre an der Macht waren. Bei einem Sieg käme automatisch die Frage nach einer Wiedervereinigung der Insel auf. Doch das ist nicht die Hauptsorge einer gespaltenen Gesellschaft, deren Wunden des Bürgerkrieges bis heute nicht geheilt sind.
Aufgewachsen im Arbeiterquartier
Die erste Kindheitserinnerung von Stephen Donnan-Dalzell aus Belfast ist nicht der Osterhase oder eine Märchenfee, sondern eine Bombenexplosion. Drei oder vier Jahre war er alt, als das ganze Haus zitterte, Fensterscheiben splitterten und das alte Fernsehgerät zur Seite kippte.
Solche Erinnerungen seien typisch für Kinder, die während der «Troubles» aufwuchsen, erzählt der heute 33-jährige Sozialarbeiter. Damals sprengte die katholische IRA die Polizeistation im protestantischen Quartier: «Nach dem Knall die grosse Stille. Wenn ich Fragen stellte, schwiegen die Eltern – weil sie über das Schreckliche nicht reden wollten.»
Nicht geschwiegen wurde zu Hause jedoch über die Feinde, die gleich um die Ecke auf der anderen Seite der Mauer leben, welche Belfast bis heute trennt.
Nach dem Knall die grosse Stille. Wenn ich Fragen stellte, schwiegen die Eltern – weil sie über das Schreckliche nicht reden wollten.
Dafür musste Stephen an den Paraden teilnehmen: «Pro-britischer Unionismus war eng mit religiösem Eifer verbunden. Die Ideologie hat man mit der Muttermilch aufgesogen.» Stephen wuchs in der Arbeiterklasse in East Belfast auf und lebt heute noch dort. In den Mauern mit den Parolen, welche der Verbundenheit zum britischen Mutterland huldigen.
Wer in einem solchen Ghetto aufwachse und später im Leben Katholiken begegne, erlebe einen ziemlichen Schock, so Stephen: «Man stellt fest, dass es Menschen sind wie du und ich, normale Leute, einfach mit anderer Flagge.» Doch die Monokultur erzeuge eine beschränkte Weltsicht und vergifte das Zusammenleben. Die Befreiung vom Tunnelblick sei nicht ganz einfach.
Die wahren Probleme
Heute beschäftigt sich Stephen, der Mann im Pullover mit farbigen Tupfen, gelben Turnschuhen und einem silbernen Ring in der Nase, mit den realen Sorgen der Menschen. Die Arbeiterklasse lebt in Belfast noch immer weitgehend getrennt. Die meisten Schulen sind konfessionell einheitlich und man vermeidet den Kontakt zur anderen Gemeinschaft.
«Ressentiments bewirtschaften und Hass schüren bringt mehr Stimmen. Mit Versöhnungspolitik holt man sich in der Politik keine Lorbeeren. Deshalb leben wir immer noch der Vergangenheit», stellt Stephen ernüchtert fest.
Stephen ist es wie vielen jüngeren Menschen egal, wer das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Unionisten und Nationalisten diese Woche gewinnt. Er will nach eigenen Worten einfach nichts mehr vom Nordirland-Protokoll hören und auch keine Flaggen, Paraden und anderen Unsinn mehr sehen: «Ich habe genug vom Gejammer der Politik über Identität und Nationalität, während die Menschen täglich ums Überleben kämpfen.»
Ich habe genug vom Gejammer der Politik über Identität und Nationalität, während die Menschen täglich ums Überleben kämpfen.
Vertrauen in London schwindet
Stephen steht stellvertretend für die junge Generation in Nordirland. Zwar ist es nicht so, dass die Jüngeren nicht am politischen Geschehen interessiert sind, wie er dies leicht überspitzt darstellt. Doch es sind Themen wie Armut und Klimawandel, welche diese Generation bewegen. Viele haben das Vertrauen in die Politik verloren – in die eigenen Reihen ebenso wie in die britische Regierung. Laut Umfragen trauen nur noch gerade vier Prozent der Bevölkerung der Regierung in London.