Tunesien war das Vorzeigeland für die Demokratisierung in arabischen Ländern. Das war im arabischen Frühling Anfang der 2010er Jahre. Übriggeblieben ist davon nur wenig. Im Gegenteil: Das Rad scheint sich zurückzudrehen. Die Repressionen nehmen zu. Präsident Kais Saied hat in den letzten fünf Jahren die Institutionen ausgehöhlt und immer selbstherrlicher regiert. Am Sonntag will er sich wiederwählen lassen. Und auch die Wahlen sind ganz auf ihn zugeschnitten.
In der Hauptstadt Tunis deutet nichts darauf hin, dass in Tunesien am Wochenende Präsidentschaftswahlen sind: Kaum Plakate, keine Wahlveranstaltungen. Der Politanalytiker Hisham Hajji ist nicht überrascht: «Es gibt gar keine Gegenkandidaten, die Präsident Saied gefährlich werden könnten.»
Es fehlte zwar nicht am Interesse. 17 Politikerinnen und Politikerinnen reichten ihre Dossiers bei der Wahlkommission ein, zugelassen wurden fürs Rennen gegen den Amtsinhaber gerade zwei. Einer gilt als ein Alibikandidat, er politisierte bisher auf der Linie des Präsidenten. Der zweite sitzt im Gefängnis. Vorgeworfen wird ihm, er habe Unterschriften fälschen lassen, die es braucht für eine Kandidatur.
Grosser Unterschied zu 2011
Hajji fragt sich: «Wie soll unter diesen Umständen eine Wahldynamik entstehen?» Der Unterschied zu 2011 könnte nicht grösser sein. Tunesiens Langzeitherrscher Ben Ali war unter dem Druck der Strassenproteste gestürzt worden. Die Hoffnungen waren enorm.
Doch es geschah nichts, sagt der Politwissenschaftler. Die Streitereien der Parteien lähmten Tunesien, die Korruption ging weiter, die Wirtschaft kam nicht voran. 2019 trat Kais Saied auf den Plan, Dozent in Verfassungsrecht, ohne Verstrickung in die politischen Clans und Seilschaften.
Er präsentierte sich als Retter der Nation. Er werde die Parteieliten in die Schranken zu weisen, die Korruption bekämpfen, die Wirtschaft ankurbeln, kurz: die Revolution erst vollenden. Damit gab er vielen, und gerade Jungen, neue Hoffnung. Doch vor diesem Wahlwochenende stelle sich die Frage, ob Saied die Jungen überhaupt noch erreiche, sagt Hajji.
Die 28-jährige Khouloud jedenfalls wird am Wochenende zu Hause bleiben. Vor fünf Jahren wählte die Englisch-Doktorandin den Newcomer, der versprach, die Politik umzukrempeln. Bei den Wahlen am Wochenende wird sie ihre Stimme nicht abgeben, viele ihrer Bekannten täten das genauso.
«Flucht in Verschwörungstheorien»
Die Korruption hält sich hartnäckig. Und statt anzupacken, flüchte sich der Präsident in Verschwörungstheorien, witterte überall Feinde Tunesiens. Doch damit versuche er nur vom eigenen Versagen abzulenken. Gewiss, die Herausforderungen seien gewaltig, Die tunesische Gesellschaft sei dermassen durchdrungen von Korruption, es brauche im Grunde einen Kulturwandel. Doch statt daran zu arbeiten, werde der Spielraum für Kritik systematisch verengt.
Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beklagt ein Klima zunehmender Repression in Tunesien. Es wird insgesamt eine geringe Beteiligung an den Wahlen erwartet. Doch Kais Saied wird sich halten können, davon gehen alle aus. Weil ein Teil der Bevölkerung doch auf den selbstherrlich agierenden Präsidenten setzt, weil die Wahl mit ihren Restriktionen eine Wahl ohne tatsächliche Auswahl ist.
Danach werde Kais Saied seine Kontrolle über die staatlichen Institutionen noch ausdehnen, sagt Politexperte Hisham Hajji voraus. Was besorgniserregend sei aus demokratischer Sicht. Andererseits werde die Machtfülle den Präsidenten zwingen, Farbe zu bekennen. Denn wenn er sämtliche Fäden in der Hand halte, werde er Resultate liefern müssen und sich nicht mehr mit Verschwörungserzählungen herausreden können.