Turbulente Zeiten brechen in Tunesien an: Das Ringen um stabile Mehrheiten, um tragfähige Kompromisse, um tiefgreifende Reformen wird nach diesem Wahlsonntag deutlich schwieriger werden, da das neugewählte Parlament aus wesentlich mehr und wesentlich kleineren Fraktionen zusammengesetzt sein wird als das bisherige.
Regierungsbildung wird langwierig und kompliziert
Erste heftige Turbulenzen wird die Regierungsbildung mit sich bringen: Sie wird langwierig und kompliziert werden, da sich drei oder noch mehr Parteien auf ein gemeinsames Programm werden einigen müssen, um eine Mehrheitsregierung hinzubekommen. Erschwert wird die Regierungsbildung durch den Umstand, dass sich die beiden gemäss ersten Hochrechnungen stärksten Parteien überhaupt nicht vertragen und eine gemeinsame Regierungsarbeit bereits im Wahlkampf kategorisch ausgeschlossen haben.
Die islamisch-konservative Ennahda-Partei sowie die liberal-soziale Partei des Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui, Qalb Tounès, beschiessen sich seit Tagen mit rhetorischen Giftpfeilen: Karoui macht die Ennahda-Partei dafür verantwortlich, dass er nach wie vor in Untersuchungshaft sitzt – wegen des Verdachts auf Geldwäscherei und Steuerflucht. Ennahda blockiere seine Freilassung über ihre Kontakte in der Justiz.
Drohungen vor der Präsidenten-Stichwahl
Schwarze Wolken hängen auch über der in einer Woche geplanten Stichwahl um die Präsidentschaft des Landes: Der seit dem 23. August inhaftierte Kandidat Nabil Karoui muss vom Gefängnis aus zuschauen, wie seine Frau und enge Vertraute an seiner Stelle Wahlkampf machen. Deshalb droht der Medienunternehmer bereits damit, nach einer allfälligen Niederlage das Wahlresultat anzufechten, da er gegenüber seinem Mitbewerber Kais Saied benachteiligt worden sei.
Saied hat den ersten Wahlgang gewonnen, geht jedoch ohne eigene Partei im Rücken in die Stichwahl. Die islamisch-konservative Ennahda empfiehlt ihn zur Wahl. Doch der konservative Verfassungsrechtler Kais Saied hat seinen Wahlkampf auf ein Minimum zurückgefahren, um seinem inhaftierten Mitbewerber Nabil Karoui keine weiteren Argumente für einen allfälligen Wahlrekurs zu liefern.
Schwarze Wolken einer Verfassungsreform
Ein heftiges Gewitter dürfte sich zwischen dem Parlament und dem Präsidenten zusammenbrauen, sollte dieser Kais Saied heissen. Saied möchte das Parlament in der heutigen Form abschaffen, ein direkt-demokratisches Politsystem einführen und die politische Verantwortung von der nationalen auf die lokale Ebene verlagern. Doch es ist schleierhaft, wie er eine solche Verfassungsreform durchs stark zersplitterte Parlament bringen möchte – und dies erst noch ohne eigene Partei.
Eine lange Debatte über ein passenderes Regierungssystem für Tunesien würde die garstige Stimmung zwischen der tunesischen Bevölkerung und seiner politischen Elite weiter verschlechtern.
Politikverdrossene Bevölkerung
Viele Bürgerinnen und Bürger sind politikverdrossen und enttäuscht. Sie haben den Eindruck, die Politikerinnen und Politiker beschäftigten sich mit nebensächlichen Fragen, statt die wirklichen Probleme des Landes anzupacken – die Arbeitslosigkeit, die Inflation, den Kaufkraftverlust, die marode Infrastruktur.
Die junge Demokratie Tunesiens durchläuft einen heftigen Stresstest in diesem Wahlherbst. Die grösste Herausforderung für die Neugewählten wird es sein, schnelle Verbesserungen im Alltag der Tunesierinnen und Tunesier herbeizuführen – und so das Vertrauen in die Politik und die Institutionen wieder zu stärken. Und damit auch das Vertrauen in die Demokratie.