Die erste Frau an der Spitze Mexikos verdankt den Sieg ihrem Förderer, dem abtretenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (kurz AMLO genannt). Der Linkspopulist hat ihr seine Beliebtheit und sein Charisma geliehen, die Physikerin dankte es ihm mit Loyalität. Doch um Mexikos Potenzial anzuzapfen – es ist das Land mit der zehntgrössten Bevölkerung der Welt –, muss Claudia Sheinbaum sich von seiner Politik emanzipieren.
Sie wird das nicht dort tun, wo die Beliebtheit herkommt: bei den diversen Sozialprogrammen und dem höheren Mindestlohn, die AMLO eingeführt und damit viele Menschen aus der Armut geführt hat. Die linke Sozialpolitik dürfte Sheinbaum weiterführen.
Das Thema Kriminalität dürfte im Fokus bleiben
Die grösste Sorge der Menschen in Mexiko ist Kriminalität und Gewalt. Die Mordrate ist hoch, politische Kandidierende wurden im Wahlkampf ermordet, Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung. Damit verbunden ist die Macht der Drogenkartelle, die teils ganze Gebiete kontrollieren und die fatale Droge Fentanyl produzieren, die in die USA geliefert wird, aber zunehmend auch in der mexikanischen Bevölkerung Schaden anrichtet.
López Obrador hat die Kartelle weitgehend in Ruhe gelassen und stattdessen auf Unterstützungsprogramme für Junge gesetzt, damit sie nicht in die Hände der Kartelle gelangen. Er hat dem Militär neue Aufgaben übertragen und weniger die Polizei gestärkt. Doch die Kartelle sind eher mächtiger geworden.
Sheinbaum hat hier keinen grundsätzlichen Kurswechsel angekündigt. Immerhin verspricht sie Reformen, wonach Polizei und Justiz gestärkt werden und so die Kriminalität gesenkt wird, wie ihr das teilweise als Bürgermeisterin der Stadt Mexiko gelungen ist. Gemäss Think-Tanks werden rund 90 Prozent der Verbrechen in Mexiko nicht aufgeklärt. Um das Potenzial Mexikos auszuschöpfen, muss Sheinbaum für mehr Rechenschaft und weniger Gewalt sorgen. Es ist eine Herkulesaufgabe.
Viele Baustellen – aber auch viel Potenzial
Mexiko ist auch ein Scharnier der Migration. Doch Mexiko will nicht Transitland sein für die Millionen, die ihr Glück in den USA suchen. Sheinbaum, die in Kalifornien ihre Doktorarbeit geschrieben hatte, verspricht, mit den USA zusammenzuarbeiten. Unter ihrem Vorgänger waren die Beziehungen wechselhaft. Verhält sie sich in diesem für die USA entscheidenden Thema geschickt, könnte die erste Präsidentin von der Grossmacht Zugeständnisse erreichen.
Einen Kurswechsel signalisiert hat die Klimawissenschafterin, die im Klimagremium IPCC mitgearbeitet hat, im Bereich Energie. Es ist gut möglich, dass Sheinbaum nicht wie ihr Vorgänger ganz auf den staatlichen Ölkonzern setzt, sondern vermehrt klimafreundliche Technologien fördert. So wie sie das teils bereits als Bürgermeisterin von Mexiko City getan hat, etwa mit Bussen, Velowegen oder Solarenergie.
Da liegt ein grosses Potenzial für die Wirtschaft Mexikos. In der derzeitigen weltpolitischen Lage, wo viele Länder unabhängiger von China werden wollen, bietet es sich als Produktionszentrum direkt an der Grenze zu den USA an. Entscheidend für mehr Wirtschaftswachstum wird auch sein, ob die verbreitete Korruption eingedämmt wird.
Es sind viele Baustellen, die ihr Vorgänger der ersten Präsidentin Mexikos hinterlässt. Mit einem schlichten «weiter so» wird sie das riesige Potenzial des Landes nicht anzapfen.