Mehr als einen Monat nach den Regionalwahlen in der Türkei hat die Wahlkommission die Bürgermeisterwahl in Istanbul annulliert. Die Wahl soll am 23. Juni wiederholt werden. Mit diesem Entscheid folgte die Behörde einem Antrag der Regierungspartei AKP. Deren Chef, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, hatte in den letzten Tagen gefordert, die Wahl des Oppositionellen Ekrem Imamoglu für ungültig zu erklären. Doch das stösst auch AKP-Mitgliedern sauer auf, sagt Thomas Seibert.
SRF News: Wie hat die Wahlkommission ihren Entscheid begründet?
Thomas Seibert: Einige Leiter der Wahllokale in Istanbul sollen zu Unrecht auf ihren Posten gewesen sein, und einige sollen mit Regierungsgegnern zusammengearbeitet haben.
Die Bürgermeisterwahl soll also manipuliert gewesen sein. Wie glaubhaft ist das?
Das ist aus zwei Gründen nicht glaubhaft: Erstens hatte die Wahlkommission die Besetzung der Posten selbst genehmigt. Zweitens betreffen diese angeblichen Manipulationen lediglich die Wahl, bei der die AKP verloren hat. Die gleichzeitig stattgefundenen Wahlen zu den Bezirksparlamenten in Istanbul – bei denen die AKP gewonnen hat – werden nicht annulliert.
Wie hat die Opposition auf diesen Entscheid reagiert?
Viele Leute in Istanbul sind am Sonntag auf die Strasse gegangen, um zu protestieren. Andere haben ihre Fenster geöffnet und als Zeichen des Protests Töpfe gegeneinander geschlagen. Und die Opposition gibt nicht auf: Noch-Bürgermeister Imamoglu hat eine flammende Rede gehalten und seine Anhänger aufgerufen, erneut um den Sieg zu kämpfen.
Wie gross sind Imamoglus Chancen, die Wahl erneut zu gewinnen?
Die Opposition hat nicht unbedingt eine Chance auf einen Sieg. Allerdings gibt es einige Entwicklungen, die einen solchen doch möglich machen könnten. Auf der einen Seite ist die Entschlossenheit der Oppositionsparteien spürbar, sich gegen die AKP zusammenzuschliessen.
Es brodelt in der AKP.
Einige kleinere Parteien haben angekündigt, ihre Bürgermeister-Kandidaten zurückzuziehen und sich hinter Imamoglu zu stellen. Und auch in der AKP gibt es sehr grossen Widerstand gegen den harten Kurs des Präsidenten. Einige AKP-Mitglieder in Istanbul, mit denen ich gesprochen habe, sagen auch, sie würden jetzt Imamoglu wählen. In der Partei brodelt es.
Ist der Widerstand innerhalb der AKP auch auf nationaler Ebene ein Thema?
Es wird schon seit längerem über die Spaltung der AKP diskutiert. Innerhalb der Partei gibt es zwei grosse Lager. Die eine Gruppe will zurück zur Reformpolitik der früheren Jahre, die andere Gruppe ist für einen harten, autokratischen Kurs. Diese Fliehkräfte in der AKP könnten jetzt zunehmen. Es wird spekuliert über die Neugründung einer rechtskonservativen Partei durch Erdogan-Gegner. Klar ist: Die AKP steht durch den Entscheid vor einer Zerreissprobe.
Erdogan könnte sich mit der Einmischung also selbst geschadet haben?
Es könnte zumindest so ausgehen. Er hat ein grosses Legitimationsproblem: Aus Sicht vieler Bürger in Istanbul will er eine Wahlniederlage wettmachen, indem er den Sieg der Opposition aberkennt. Dazu kommt die Wirtschaftslage. Die Türkei steckt in der Rezession. Eine Neuwahl in Istanbul ist nicht das, was die Anleger sehen wollen. Die türkische Lira hat in der Nacht gegenüber Euro und Dollar stark an Wert verloren. Der Wahlkampf, der jetzt beginnt, wird im Zeichen einer schweren Wirtschaftskrise stattfinden.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.