In Paris ist wenig vom Benzinengpass zu spüren, die Menschen fahren mit der Metro oder dem Fahrrad zur Arbeit. Auf dem Land dagegen haben laut Umfragen 70 Prozent der Bevölkerung keinen Anschluss an die öffentlichen Verkehrsmittel.
«Frankreich ist ein gespaltenes Land. Peripherie versus Zentrum», sagt Hélène Miard-Delacroix, Professorin für Deutsche Zeitgeschichte an der Pariser Universität Sorbonne.
Inflation schürt die Streiks
Im Moment entwickeln sich gleichzeitig zwei Formen des Protestes: einerseits der klassische Arbeitskampf der Gewerkschaften um mehr Lohn. Dieses Jahr ist er besonders heftig: Die Inflation frisst ein Loch ins Budget der Arbeitnehmenden. Gleichzeitig profitieren die Energiekonzerne überdurchschnittlich von der Krise. Deswegen streiken im Energiesektor Angestellte bei Raffinerien, neu auch bei Atomkraftwerken.
Andererseits formiert sich ein Protest der Unzufriedenen: «Dieser ist nicht geordnet, es ist eine revolutionsartige Erhebung von Menschen, die sich abgehängt fühlen und schreien, um gehört zu werden», so Miard-Delacroix. Vergleichbar mit den Gilets Jaunes, den Gelbwesten, die vor vier Jahren zu Hunderttausenden auf die Strasse gingen.
Das Linksbündnis Nupes von Jean-Luc Mélanchon hat für den vergangenen Sonntag zu einem «Marsch für die Kaufkraft» aufgerufen. Der Zulauf hielt sich in Grenzen. Miard-Delacroix relativiert: «Dieses Bündnis ist nicht sehr stabil. Es fehlten am Sonntag der Chef der Kommunistischen Partei, der Vorsitzende der Grünen und der Chef der Gewerkschaft CGT.»
Bezeichnend ist die Haltung des Rassemblement National unter Marine Le Pen. Sie scheint unschlüssig, wie sie sich zu den Protesten stellen soll: «Die Partei wartet ab, wie sich die Situation entwickelt. Denn sie vertritt die ‹kleinen Leute›, die nun kein Benzin erhalten, ebenso vertritt sie die Arbeitnehmer, die jetzt in den Raffinerien streiken. Für welche Seite soll sie Partei ergreifen?», fragt Hélène Miard-Delacroix. Diese Unentschlossenheit zieht sich durch viele politische Parteien bis hin zur Gruppierung um den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Lohnerhöhungen könnten Eskalation stoppen
Für die Professorin für Zeitgeschichte an der Sorbonne stellt sich die Frage, ob die Regierung genug schnell handeln kann. Lohnerhöhungen bei den öffentlichen Verkehrsmitteln und beim staatlichen Stromversorger könnten weitere Streiks ausbremsen.
Dies sei eine Voraussetzung, dass es nicht politisch einen heissen Herbst und Winter gebe, wie 2018 mit den Gelbwesten. Oder gar noch eine breitere neue soziale Bewegung, wie sie dem Linkspolitiker Jean-Luc Mélanchon vorschwebt. «Eine solche Protestbewegung kann sich die Regierung im Moment nicht leisten», bilanziert Miard-Delacroix.