Was ist passiert? Tausende Maori haben in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington gegen die Regierung protestiert. Kritikpunkt ist die Umsetzung der Praxis, gefährdete Kinder den Eltern wegzunehmen: Mehr als die Hälfte der Kinder in staatlicher Fürsorge sind Maori. Die indigene Gruppe macht aber nur 15 Prozent der Bevölkerung in Neuseeland aus.
Wie lauten die Vorwürfe? Die Maori werfen der Regierung Rassismus und Kolonialpolitik vor. «Das ist etwas überspitzt», sagt SRF-Mitarbeiter Urs Wälterlin, der in Australien lebt. «Neuseeland hat ein grundsätzliches Problem mit Kindern.» Kindesmissbrauch und die Verwahrlosung von Kindern seien weit verbreitet. Eine Studie von 2018 zeigte, dass von 55'000 Kindern in Neuseeland jedes vierte unter Misshandlung oder Verwahrlosung litt.
Wo liegt das Problem? Unter den Maori sei Armut ein grosses Problem, das Vernachlässigung begünstigen könne, sagt Wälterlin. Kommt Missbrauch hinzu, spiele auch die Tatsache, es aus der eigenen Kindheit nicht anders zu kennen, eine Rolle. Die Studie kommt zum Schluss, dass es generell an Erziehungsprogrammen fehlt.
Andererseits seien kulturelle Unterschiede nicht zu unterschätzen, so Wälterlin: Wenn Maori-Kinder im tiefsten Winter barfuss und in kurzen Hosen zur Schule gehen, ist das ein irritierendes Bild. «Die Wahrnehmung für grundsätzliche Bedürfnisse wie Wärme, Schutz und gesunde Nahrung ist zwischen Menschen verschiedener Kulturen anders – wahrscheinlich nicht nur in Neuseeland.»
Was unternimmt die Premierministerin? Diese strukturellen Herausforderungen existieren seit Jahrzehnten. «Seit ihrer Wahl 2017 stehen soziale Probleme ganz oben auf Jacinda Arderns Prioritätenliste», sagt der Journalist. Der im Mai veröffentlichte Haushaltsplan – «der erste seiner Art in der westlichen Welt», so Wälterlin – hat das Wohlbefinden der Bevölkerung als oberstes Ziel.
Milliarden sollen in die Bekämpfung von psychischen Krankheiten, Armut und häuslicher Gewalt fliessen. Ein Fokus ist auch der Kampf gegen Kindesmissbrauch. Weil die Sitze der Maori für Arderns Labour-Partei wichtig sind, könne sie sich ein Nichtstun vor den Wahlen 2020 nicht leisten, sagt Wälterlin; der Schutz von Kindern sei der Mutter aber auch ein persönliches Anliegen.
Gibt es konkrete Massnahmen? Wälterlin vermutet, dass sich die Regierung nun die Kinderwohlfahrtsbehörde Oranga Tamariki vornehmen wird. «Ehemalige Mitarbeiterinnen klagen seit langem über eine toxische Unternehmenskultur». Die Behörde sei personell völlig unterversorgt: Ein Fürsorgebeamter sei für 60 Fälle zuständig. Von den Maori wird der Behördenchefin vorgeworfen, dass sie ihre Kultur nicht verstehe, weil sie nicht aus Neuseeland stamme.
Wird sich jetzt etwas ändern? Veränderung sei gewiss, so Wälterlin. «Aber es ist ein langer und langwieriger Prozess. Man kann keine Wunder erwarten.»