Wer am Sonntagnachmittag durch das Stadtzentrum von Lwiw flaniert, traut seinen Augen kaum: Auf dem langgezogenen Platz vor dem Opernhaus musiziert alle paar Meter eine Strassenmusik. Von Folklore-Liedern über Rock bis Hip-Hop reicht das musikalische Spektrum. Eine Gruppe tanzender junger Frauen lässt sich gerade für ein Musikvideo filmen. Im prächtigen Opernhaus wird um 18 Uhr das Ballett «Giselle» aufgeführt. Nur dass vor der Aufführung die Nationalhymne gesungen wird, erinnert daran, dass dieses Land derzeit militärisch um sein Überleben kämpft.
Tourismus in der Krise
Lwiw ist wie gemacht für Tourismus. Die Altstadt ist Teil des Unesco-Weltkulturerbes und wird geprägt von Bauwerken der Renaissance, des Barocks, Klassizismus und Jugendstils. Das mediterrane Flair der Stadt diente einst als Kulisse für sowjetische Filme, die Rom oder Venedig darstellen sollten.
Die Touristinnen und Touristen, die wir treffen, kommen fast alle aus der Ukraine. Polina Skrypnyk etwa, die ich auf dem Rathausturm treffe, kommt aus Kiew. Sie sagt: «Hier in Lwiw kann man in Ruhe spazieren gehen, Kaffee trinken. Alle sind ruhig. Niemand rennt gestresst herum. Alle geniessen und leben im Hier und Jetzt.» Auf die Frage, ob es nicht problematisch sei, ein Land während des Krieges touristisch zu bereisen, sagt ihre Begleiterin Dascha Oliynyk: «Es gibt immer ein Risiko. Es kann immer eine Bombe einschlagen. Aber man muss sich entscheiden. Entweder führen wir unser Leben weiter oder wir leben nur noch in Angst.»
Es ist Krieg hier. Das muss sich jeder überlegen.
Russischer Raketenanschlag
Stadtführer Oleg Sajatschkiwskyj, den wir vor dem Rathaus treffen, kommt mit seiner Arbeit finanziell kaum noch über die Runden. Er wünscht sich zwar wieder mehr Gäste, aber er zögert, derzeit eine Reise nach Lwiw zu empfehlen und sagt dann in bestem Deutsch: «Es ist Krieg hier. Das muss sich jeder überlegen. Ich würde eher sagen: Ja, man kann herkommen. Und ich würde mich freuen, wenn hier ein paar Schweizer auftauchen würden.»
Doch dass die Normalität in Lwiw trügt, wurde Anfang Juli auf einen Schlag allen klar. Eine russische Rakete schlug in der Nacht in ein Wohnhaus neben einem Militärgelände ein. Zehn Menschen wurden getötet und vierzig weitere zum Teil schwer verletzt. Das Haus liegt immer noch in Trümmern. Eine junge Frau, die im Nachbarhaus arbeitet, sagt: «Dieser Anschlag hat mir klargemacht, dass überall alles passieren kann. Dass Lwiw nicht so sicher ist, wie ich gedacht hatte.»
Fast jeden Tag findet vor dem Rathaus eine Zeremonie für die neu gefallenen Soldatinnen und Soldaten der Stadt Lwiw statt. Heute verabschiedet eine schwarz gekleidete Witwe ihren im Kampf gefallenen Mann. Neben ihr steht Bürgermeister Andrij Sadowyj. Er sagt uns: «Meine Stadt hat derzeit eine besondere Aufgabe. Wir sind ein riesiges humanitäres Zentrum. Letztes Jahr hatten wir zeitweise fast zwei Millionen Flüchtlinge in dieser Region. Heute sind es noch 150'000. Unsere Spitäler haben schon 30'000 Verletzte behandelt. Und wir haben hier 6000 Luftschutzkeller.»
Der Soldatenfriedhof wächst
Wir besuchen den Soldatenfriedhof von Lwiw. Es ist ein riesiges, gelb-blaues Fahnenmeer. Über 500 Gefallene liegen hier bereits begraben. Die neuen Gräber befinden sich ausserhalb der Mauern des berühmten Lytschakiwski-Friedhofs, auf dem viele Prominente liegen. Als wir ankommen, werden soeben zwei weitere Soldaten beigesetzt. Eine Militärmusik spielt einen Trauermarsch.
Nach der Beerdigung kommen wir mit der Kriegswitwe Natalia Bobanitsch ins Gespräch. Sie sagt: «Es ist ein verrückter Schmerz für alle. Dieser Schmerz wird uns verfolgen bis ans Lebensende. Aber wir sind sicher, dass wir diesen Krieg gewinnen werden.»
Moderne Prothesenklinik
Ein paar Minuten ausserhalb der Stadt in Wynnyky liegt die Klinik «Superhumans». Es war ein altes sowjetisches Militärspital. Durch private Spenden aus dem In- und Ausland wurde hier in Rekordzeit eine moderne Klinik für amputierte Soldatinnen und Soldaten eröffnet. Schätzungen zufolge haben mehr als 10'000 ukrainische Soldaten seit Beginn der russischen Invasion einen Arm oder ein Bein verloren. Sie alle müssen einen Weg zurück ins Leben finden. Michailo Onoprienko ist einer von ihnen. Er trägt eine bionische Handprothese und drückt mir damit die Hand. Ich fühle mich wie in einem Science-Fiction-Film. Er sagt: «Ich fühle Schmerz, Trauer und Verlust. Viele Emotionen. Aber das Leben geht weiter. Man muss weiterleben.»
Wie fast alle hier möchte er zurück in die Armee. Als Drohnenpilot oder Logistiker. Das medizinische Personal bezeichnet die Patienten im Gespräch meist als Helden. Trauer oder Bitterkeit zu zeigen, ist hier tabu. Die Physiotherapeutin Oksana Nekerui erklärt: «Ich bin voller Dankbarkeit gegenüber meinen Patienten. Sie verteidigen mein Land. Dank ihnen kann ich mit meinen Kindern in Sicherheit leben.» Die Arbeit wird ihr so rasch nicht ausgehen. 600 Amputierte stehen auf der Warteliste der Klinik.
Zurück in der Stadt. Unten auf dem Platz vor der Oper kann man für einige Hrywnja mit einem Luftgewehr auf ein Bild von Wladimir Putin schiessen. Doch nur wenige tun es.
Derzeit kommen nur mutige Leute nach Lwiw. Hier erleben sie Emotionen und sehen die Lage so, wie sie ist. Wir werden niemals aufgeben. Es gibt nur den Sieg.
Ich frage den Bürgermeister, wie er die Zukunft seiner Stadt sieht. Er überlegt kurz und sagt dann sehr entschlossen: «Vor elf Jahren hatten wir hier die Fussball-Europameisterschaft. 2025 werden wir europäische Jugendhauptstadt sein. Aber derzeit kommen nur mutige Leute nach Lwiw. Hier erleben sie Emotionen und sehen die Lage so, wie sie ist. Wir werden niemals aufgeben. Es gibt nur den Sieg.»