Die Ukraine ist eine der wichtigsten Weizenexporteure weltweit. Der Krieg und die Blockade der ukrainischen Häfen haben dazu geführt, dass die Preise für Getreide explodieren. Jakob Kern, Nothilfekoordinator des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP), erklärt in der SRF-Sendung «Club», was es für die Ukraine und die Welt heisst, wenn das Getreide noch länger in den Häfen stecken bleibt.
SRF News: Herr Kern, Sie sagen, die Ukraine hat früher die ganze Welt ernährt. Jetzt brauchen die Ukrainer und Ukrainerinnen Hilfe, um sich selbst zu ernähren. Wie ist die Lage vor Ort?
Jakob Kern: Die Ukraine ist der fünftgrösste Weizenexporteur der Welt und hat etwa 400 Millionen Menschen mit Weizen ernährt. Jetzt sind wir in der Ukraine in einer Situation, in der zwar Lebensmittel vorhanden sind, die Leute in den Kriegsgebieten aber keinen Zugang dazu haben. Als ich in Kiew war, gab es praktisch keine Läden mehr, in denen Lebensmittel vorhanden waren.
In Europa ist das Jammern auf hohem Niveau, wenn der Weizenpreis um 30 Prozent steigt.
Anderseits ist ein Viertel der Bevölkerung in den Westen der Ukraine geflüchtet. Diese Menschen haben zwar Zugang zu Lebensmitteln, aber kein Geld, um diese zu kaufen. Wir vom World Food Programm helfen der Regierung im Osten, wo die Kämpfe stattfinden, Lebensmittel zu verteilen. Das sind Schachteln von 17 Kilos, die einen Monat für eine Person reichen. Im Westen geben wir den Leuten Bargeld, damit sie Lebensmittel kaufen können.
Die Ukraine hat kein Einkommen mehr, weil sie ihr Getreide nicht mehr exportieren kann. In den Häfen sitzen 20 Millionen Tonnen fest. Die Hälfte vom Weizen des World Food Programms, welches in vielen Ländern aktiv ist, kann nicht geliefert werden. Was heisst das für all die Menschen, die auf den Weizen angewiesen sind?
In Europa ist das Jammern auf hohem Niveau, wenn der Weizenpreis um 30 Prozent steigt. Das Brot wird vielleicht irgendwann 5 Rappen teurer. Aber wenn eine Person in Jemen, Somalia oder Syrien 90 Prozent von ihrem Einkommen für Lebensmittel ausgibt, dann entspricht eine Preissteigerung von 30 Prozent genau der Grenze zwischen genug oder eben nicht genug zu essen. In dieser Situation sind wir jetzt.
Es ist nicht so, dass die ganze Welt kein Weizen oder Getreide mehr hat, aber die Preise sind höher geworden und die Ärmsten trifft es am meisten.
Es ist nicht so, dass die ganze Welt kein Weizen oder Getreide mehr hat, aber die Preise sind höher geworden und die Ärmsten trifft es am meisten.
Wir sprechen von 400 Millionen Menschen, vor allem in Afrika, die das betreffen könnte. Eigentlich wäre auf der Welt genügend Getreide vorhanden. Wo liegt dann das Problem?
Erstens ist das Problem, dass viele Länder auf ihren strategischen Weizenreserven sitzen bleiben und diese nicht mehr exportieren. Das andere ist, dass sehr viele Länder im Nahen Osten, aber auch in Afrika vom ukrainischen Weizen abhängig sind, weil er billig und nahe zum Transportieren ist. Vom Schwarzen Meer nach Syrien oder Jemen ist es viel näher als von der USA oder Indien. Das hat zusammen mit der Covid-Pandemie den Preis in die Höhe getrieben.
Für uns vom World Food Programm bedeutet das, dass wir jetzt jeden Monat 70 Millionen Franken mehr für die gleiche Menge an Lebensmitteln ausgeben. Mit 70 Millionen Franken könnten wir vier Millionen Menschen einen Monat lang mit einem vollen Warenkorb unterstützen. Das ist eine ganz konkrete Folge des Krieges und des Preisanstiegs.
Das Gespräch führten Aron Marighetti und Barbara Lüthi.