SRF News: In deutschen Medien wird von einer Staatskrise gesprochen. Wie würden Sie das – als Beobachter mit einer Schweizer Brille – bezeichnen?
Peter Voegeli: Den Begriff Staatskrise finde ich übertrieben. Der Staat funktioniert noch, und er hat auch Instrumente für diese Krise. Aber es ist eine politische Krise, die es so in den 68 Jahren der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat. Ausgerechnet jetzt ist das wirtschaftlich prosperierende Land über Nacht politisch instabil geworden.
Die Krise hat es deshalb in sich, weil am Ende auch Merkel zurücktreten oder stürzen könnte. Das würde an die Abwahl von Winston Churchill 1946 erinnern: International war er hochgeachtet, zuhause aber wollte man Änderungen.
Die gleichen Medien, die gestern noch jede Millimeter-Bewegung in den Verhandlungen veröffentlichten, sagen heute: ‹Das wäre sowieso nie was geworden, dieses Jamaika-Bündnis›. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich habe viel eher eine ungläubige Überraschung wahrgenommen. Es war klar, diese Koalition ist kein Wunschkind, aber man dachte, Merkel wird's schon richten, egal wie das Resultat ist, am Ende ist Merkel Kanzlerin. Das war eine Fehlannahme. Und das erinnert mich an den Wahlkampf: Lange schien Merkel unanfechtbar, es gab diesen Wohlfühl-Wahlkampf, der von Pfiffen und Parolen der AfD, der rechtsextremen NPD, aber auch von aufgebrachten Bürgern gestört wurde, und da hat man gesehen: Unter der Oberfläche brodelt es.
Wer geht als Sieger, wer als Verlierer aus diesen gescheiterten Verhandlungen?
Ich denke, die CDU und Angela Merkel sind Verlierer. Der Nimbus der Siegerin ist gebrochen. Die CSU versinkt in ihrer eigenen Krise und um erfolgreich zu sein, muss sie in Berlin etwas zu sagen haben. Die Kleineren, die FDP, die Grünen oder die Linke könnten gar nicht so viel Schaden nehmen.
War's das jetzt für Angela Merkel?
Das kann man im Moment nicht wissen. Die CDU und die CSU rücken sofort zusammen, sie will auch nochmals antreten bei Wahlen hat sie gesagt. Aber im Moment ist Vieles im Fluss.
Die SPD hat eine Grosse Koalition erneut ausgeschlossen. Bleibt es dabei?
Die SPD sagt seit dem 24. September jeden Tag Nein. Ich denke, sie bleibt dabei. Was aber nach Neuwahlen wäre, das weiss die SPD jetzt noch selbst nicht. Martin Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles stehen in dieser Frage eng zusammen, und ich könnte mir vorstellen, dass bei Neuwahlen Nahles Kanzlerkandidatin wird und Schulz Parteichef bleibt.
Soviel zum Thema «Vor der Verantwortung fliehen» ...
Das kann man so sehen. Schliesslich will die deutsche Verfassung nicht nach einer Wahl einfach Neuwahlen. Aber: Eine parlamentarische Demokratie lebt von der Konkurrenz der politischen Ideen.
Es geht nicht darum, als Juniorpartner mitzuregieren.
Die beiden Grossen, die Union von CDU und CSU und die SPD, müssen darum kämpfen, wer stärkste Kraft ist. Es geht nicht darum, als Juniorpartner mitzuregieren. Damit zerstört sich die SPD allerdings selbst, solange Angela Merkel Kanzlerin ist.
Wie wahrscheinlich ist eine Minderheitenregierung, zum Beispiel mit Union und FDP?
Es gab immer wieder Minderheitsregierungen in den Bundesländern, aber angesichts der aussenpolitischen Verantwortung hat das die Kanzlerin immer abgelehnt. So wie heute auch wieder.
Als letzte Option bleiben Neuwahlen. Wer hätte da die besten Karten, die AfD?
Da bin ich mir nicht so sicher: Alle die aus Protest und nicht aus Überzeugung AfD gewählt haben, könnten zum Schluss kommen, dass es diesmal auf ihre Stimme ankommt. Dass sie nicht gegen, sondern für etwas wählen müssen.
Profitieren könnten kleineren Parteien, FDP, Grüne und Linke. Eine solche Tendenz hat sich bereits angedeutet. Ob die SPD dazugewinnen wird ist fraglich. Vielleicht ein bisschen. Gut möglich ist, dass aber die Union verlieren wird. Wir erinnern uns an die Rufe: Merkel muss weg.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.