Premierministerin Theresa May hat die Brexit-Abstimmung im Unterhaus verschoben, sie möchte mit der EU nachverhandeln. Diese signalisiert dazu aber keinerlei Bereitschaft.
Mit ihrem Vorgehen habe sich May allenfalls etwas Zeit erkauft, sagt der UK-Spezialist Gerhard Dannemann. Ob sie damit den EU-Austrittsvertrag und auch ihren Job retten kann, bleibt offen.
SRF News: Laut Ihrer Aussage hat Premierministerin Theresa May bloss eine kurze Verschnaufpause gewonnen, damit aber kein Problem gelöst. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Gerhard Dannemann: Mit der Verschiebung der Abstimmung hat May keine neuen Optionen geschaffen. May hat eigentlich bloss eine krachende Abstimmungsniederlage verschoben. Denn das Brexit-Austrittsabkommen mit der EU muss irgendeinmal vors britische Parlament, das sieht das Gesetz vor. May hofft wohl, doch noch etwas präsentieren zu können, das nicht ganz so heftig durchfällt, oder vom Parlament sogar angenommen wird. Doch dafür sieht es nicht gut aus.
Wie kommt die Verschiebung der Abstimmung im Vereinigten Königreich an?
Nicht besonders gut. Von allen britischen Zeitungen reagiert bloss noch die «Daily Mail» einigermassen freundlich. Sie schreibt, das sei «the last roll of the dice» – das letzte Würfeln Mays. Alle anderen Blätter – egal ob brexit-kritisch oder -freundlich – äussern sich sehr kritisch über May.
Früher oder später wird es zu einer Vertrauensabstimmung kommen.
Kann die Premierministerin angesichts der fast einhellig scharfen Kritik weitermachen wie bisher? Oder kommt es zu einer Vertrauensabstimmung?
Mit ihrem Schachzug hat May eine Vertrauensabstimmung verhindert, denn die Labour Partei hatte eine solche angekündigt, sollte der Brexit-Deal mit grosser Mehrheit abgelehnt werden. Früher oder später wird es wohl tatsächlich zu einer Vertrauensabstimmung kommen. Derzeit besteht zudem die Möglichkeit, dass die May-Gegner innerhalb ihrer konservativen Partei versuchen, die Premierministerin mittels Vertrauensvotum innerhalb ihrer Fraktion abzulösen.
Vielleicht wartet man aber auch erst mal ab, bis May von ihrer Tour in verschiedene EU-Länder und die EU-Zentrale in Brüssel zurückgekehrt ist. Dies in der Hoffnung, dass sie Konzessionen am vorliegenden Brexit-Vertrag erzielen kann – obwohl das derzeit sehr unwahrscheinlich scheint.
Der Brexit ist kurzfristig auf die Traktandenliste des EU-Gipfels von Ende Woche aufgenommen worden. Doch Nachverhandlungen hat EU-Ratspräsident Donald Tusk ausgeschlossen. Ist Mays Nachverhandlungs-Plan überhaupt realistisch?
Das ist sehr zweifelhaft. Vielleicht erhält sie von der EU ein paar freundliche Worte, dass man bemüht sei, dass der sogenannte Backstop nicht greifen werde. Brüssel könnte auch das Bild etwas korrigieren und klarmachen, dass die EU kein Vetorecht hat, um ein Ausscheiden der Briten aus der EU zu verhindern. Allerdings habe ich meine Zweifel, dass das reichen wird, um das Unterhaus umzustimmen.
Wäre es nicht besser, jetzt abstimmen zu lassen – im Sinne eines «lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende»?
Das könnte man durchaus so sehen. May hatte wahrscheinlich einkalkuliert, dass sie eine erste Abstimmung verlieren wird. Doch nun ist ihr von der Fraktionsspitze wohl signalisiert worden, dass sie sehr heftig verlieren werde.
Es liegen immer noch alle Möglichkeiten auf dem Tisch.
Vielleicht setzt May jetzt darauf, dass es nur eine einzige Abstimmung geben wird und sich die Parlamentarier deshalb doch noch zu einer Zustimmung bewegen lassen. Das, weil sie dann wüssten, dass es keine zweite Möglichkeit geben wird, doch noch umzuschwenken. Momentan liegen immer noch alle Möglichkeiten auf dem Tisch: Ein krachendes Ausscheiden ohne Vertrag mit der EU, eine zweite Volksbefragung über einen Austritt, die Norwegen-ähnliche Option mit dem EWR. Doch im Moment weiss man nicht, wie der nächste Schritt aussehen wird.
Chaos pur also im Vereinigten Königreich?
Im Moment ist es tatsächlich ein Chaos. Auch das Parlament hat etwas Ähnliches in letzter Zeit nicht erlebt. Wir werden wohl eine Weile warten müssen, bis sich die Wogen geglättet haben und man weitermachen kann.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.