Die Geschichte des Austritts Grossbritanniens aus der EU wird immer verworrener. Das Parlament hat Neuwahlen vorerst abgelehnt und will nicht ohne Abkommen aus der EU austreten. Es versucht, Premierminister Boris Johnson zu zwingen, den Austritt noch einmal zu verschieben. Wie es zu dieser Situation kommen konnte, erklärt SRF-Korrespondent Martin Alioth.
SRF News: Ist der No-Deal-Brexit nun definitiv vom Tisch?
Martin Alioth: Das Unterhaus hat sich gestern Abend gegen einen Austritt am 31. Oktober ausgesprochen. Aber es ist wie immer seit drei Jahren. Das Unterhaus kann sich gelegentlich darauf einigen, was es nicht will. Aber es gibt keine Einigkeit, wie das Verhältnis mit der EU künftig aussehen soll. Das heisst, die Klippe des vertragslosen Zustands ist nur drei Monate verschoben worden. Was nachher geschieht, weiss niemand.
Der aktuelle Stand ist, dass der Austritt Ende Januar 2020 und nicht Ende Oktober 2019 stattfindet. Als nächstes ist das Oberhaus am Zug. Welchen Spielraum hat es?
Die Konservativen haben im Oberhaus keine Mehrheit. Das Gesetz kommt bestimmt durch.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der 31. Oktober als Austrittsdatum vom Tisch ist.
Falls es noch Zusätze für das Unterhaus geben sollte, werden diese am Montagmorgen noch beraten werden können. Dann kann das Gesetz zur Königin für ihre Unterschrift. Zusammenfassend kann man sagen, dass der 31. Oktober als Austrittsdatum vom Tisch ist.
Johnson fordert Neuwahlen. Sie wurden zwar abgelehnt, aber sie sind trotzdem ein Thema. Geht es um den Zeitpunkt?
Ja, die Uneinigkeit bezieht sich auf den Zeitpunkt. Letztlich besteht Einigkeit, dass eine Neuwahl bevorsteht. Sollen die Wahlen vor dem 31. Oktober stattfinden, wie es die Regierung will, oder erst nachher? Manche aus der Opposition wollen sicher gehen, dass Johnson den Austrittstermin vom 31. Oktober nicht klammheimlich nach einer Wahl wieder einführen kann. Denn Johnson selbst hat sich die Pflicht auferlegt, dieses Datum wahrzunehmen.
Wie fallen die politischen Bewertungen nach dem Machtkampf gestern im Unterhaus aus?
Die Zeitungen weisen darauf hin, dass Johnson in eine Ecke gedrängt wurde, dass er zu Beginn seiner Amtsführung als Premierminister drei – wenn man das Oberhaus dazu zählt, sind es vier – Niederlagen eingesteckt hat. Und es gibt Artikel darüber, dass der Parteiausschluss all jener, die in den letzten 48 Stunden gegen ihn gestimmt haben, die Basis der Konservativen Partei beängstigend verengt hat. Der liberale-proeuropäische Flügel wird plangemäss hinausgedrängt.
Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, hat kürzlich gesagt, die Gespräche der EU mit dem Vereinigten Königreich seien gelähmt.
Welchen Spielraum hat Johnson noch? Man hat den Eindruck, er habe hoch gepokert und bis jetzt vor allem verloren?
Die Schwierigkeit ist, dass niemand mehr Johnsons Wort traut. In den letzten Tagen hat er mehrfach behauptet, er mache Fortschritte in den Verhandlungen mit der EU. Aber der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, hat kürzlich gesagt, die Gespräche der EU mit dem Vereinigten Königreich seien gelähmt. Das ist das klare Gegenteil. Da entpuppt sich Johnsons Behauptung als Luftblase.
Hat Johnson noch Trümpfe im Ärmel, damit er das Geschehen noch in seine Bahnen lenken kann?
Johnsons Wege sind verschlungen. Deshalb werde ich mich nicht auf die Äste hinauslassen. Ich meine, dass eine Neuwahl unvermeidlich ist, aber die Teile des politischen Kaleidoskops in Grossbritannien verschieben sich mit derart atemberaubender Geschwindigkeit und Radikalität, dass Prognosen im Moment verlorene Liebesmüh darstellen.
Das Gespräch führte Roger Aebli.