In Grossbritannien fragen sich viele, wie es nach Boris Johnsons Rücktritt mit dem sogenannten Nordirland-Protokoll weitergehen soll. Das Abkommen sorgt dafür, dass es nach dem Brexit keine harte Grenze gibt zwischen dem britischen Nordirland und Irland, einem EU-Land. Die Regierung in London hat ein Gesetz erarbeitet, das die Zollkontrollen für Waren gegen den Willen der EU wieder weitgehend abschafft. Das Drama um das Protokoll gehe weiter, sagt Rechtsprofessor Holger Hestermeyer.
SRF News: Wird das Ringen um das Nordirland-Protokoll mit dem Rücktritt von Boris Johnson in den Hintergrund rücken?
Holger Hestermeyer: Für ein paar Wochen werden die Gedanken sicherlich bei dem Machtkampf sein. Aber es steht nicht bloss zu befürchten, sondern es ist sehr sicher, dass das Thema dann wieder zurückkehren wird. Dies hat mehrere Gründe. Erstens: Der Gesetzesentwurf, der die von der EU mit Grossbritannien vereinbarte Lösung aushebelt, hat bereits die zweite Lesung durchlaufen.
Die Problematik in Nordirland ist real und bedarf ständiger Verhandlung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.
Zweitens: Hier geht es nicht darum, dass eine Wahl stattfindet, bei der das Parlament vollständig ersetzt wird, sondern es geht bloss um einen «Leadership Contest» unter den Konservativen. Und drittens: Abseits des Dramas ist die Problematik in Nordirland real und bedarf ständiger Verhandlung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.
Das Protokoll ist in Nordirland umstritten. Eine Mehrheit im nordirischen Parlament hat im Frühling aber gesagt, im Grundsatz könnte dieses Abkommen mit der EU eigentlich funktionieren. Erhält diese Position jetzt mehr Auftrieb mit Johnsons Abgang?
Es ist so, dass die Nationalisten, also die Pro-Iren, für das Protokoll sind. Die Alliance-Partei ist auch für das Protokoll, aber die Unionisten und hier insbesondere die DUP sind weiterhin dagegen. Sie sehen sich tatsächlich in ihrer Existenz bedroht. Das Problem ist, dass die Exekutive in Nordirland nicht zusammentreten kann, solange die DUP dies verhindert. Und das wird sie weiterhin tun, sodass es momentan wahrscheinlich keine Lösung geben wird, die alle Gruppen gleichsam zufriedenstellt.
Johnson sagte mehrfach, das Protokoll sei nicht gut. Es benachteilige britische Unternehmen, sorge für Unfrieden. Stimmt das?
Ich denke, Probleme gibt es, die sind real, weil der Brexit einfach dazu führt, dass irgendwo eine Grenze sein muss. Die Regierung hat allerdings jegliches Problem aufgegriffen und politisiert. Das war nicht produktiv, um den Frieden in Nordirland zu fördern. Und sie hat sehr stark Partei ergriffen für die unionistischen Seite, die diese Dramatik fördern will.
Wir wissen noch nicht, ob der Nachfolger noch radikaler sein wird, oder ob er eine gemässigtere Politik verfolgen wird.
In Wirklichkeit ist es so, dass für die Wirtschaft auch Chancen bestehen, weil die Wirtschaft in Nordirland einen besseren Zugang zum Binnenmarkt der EU hat. Aber es ist auch wahr, dass sie einen etwas schlechteren Zugang zu Grossbritannien hat, dass hier also in gewisser Weise ein Kompromiss gesucht und gefunden werden musste.
Wer auf Johnson als Premierminister folgen wird, dürfte nach dem Sommer klar sein. Wird das Protokoll gleich brisant bleiben?
Wir wissen noch nicht, ob der Nachfolger noch radikaler sein wird – es gibt radikalere Kandidaten –, oder ob er eine gemässigtere Politik verfolgen wird. Die Problematik des Nordirland-Protokolls wird bestehen bleiben. Wir hoffen, dass ein Nachfolger gefunden wird, der einen Konsens sucht. Aber es steht zu befürchten, dass die Problematik weiter dramatisch bleiben wird. Und die EU, für die viel auf dem Spiel steht, hat eigentlich gar keine Wahl, als weiter zu beobachten.
Das Gespräch führte Rino Curti.