«Es gibt Momente, in denen die Geschichte nicht abwartet», ermahnte der belgische König Philippe am Nationalfeiertag vom 21. Juli die Politik. «Das ganze Land fordert nun eine entschiedene und stabile Regierung. Enttäuschen wir es nicht.»
Einen Monat später folgte die grosse Ernüchterung beim Monarchen: Die Chefs der beiden wichtigsten Parteien haben es erneut nicht geschafft, sich auf eine Regierung zu einigen. Nun haben sie beim König ihren Rücktritt angeboten.
Unschmeichelhafter Rekord
Es scheint also Momente zu geben, in den Geschichte erst einmal zuwartet – und das satte 600 Tage lang. Denn so lange ist das 11-Millionen-Einwohner-Land mittlerweile ohne Regierung. Weltrekord.
Das Machtvakuum in Brüssel kommt zur Unzeit. Denn auch in Belgien wütet das Coronavirus – seit Dienstag figuriert das Land sogar auf der Risikoliste des Bundes. Bei Rückkehr in die Schweiz gilt Quarantänepflicht. Gänzlich führungslos treibt das Land aber nicht durch die Krise: Seit März gibt es eine Notregierung mit Ministerpräsidentin Sophie Wilmès.
Ich habe den Eindruck, dass die Regierungsbildung die Belgierinnen und Belgier gar nicht so stark interessiert.
Und diese beweist: Belgien kann – zumindest kurzfristig – durchaus ohne gewählte Regierung funktionieren. «Die Corona-Pandemie zeigt, dass sich die Parteien zusammenraufen können, wenn es eine ausserordentliche Situation gibt», so SRF-Benelux-Korrespondent Michael Rauchenstein.
Das Mandat läuft aber im September aus. Die Zeit drängt, eine neue Regierung zu bilden. Seit den Parlamentswahlen vom Mai 2019 warten die Bürgerinnen und Bürger damit auf eine Regierungskoalition. Reisst ihnen bald der Geduldsfaden?
Ein gewisser Frust sei spürbar, sagt Rauchenstein. Aber: «Ich habe auch den Eindruck, dass das die Belgierinnen und Belgier gar nicht so stark interessiert. Für sie ist wichtig, wie es in den Regionen und in den Sprachgemeinschaften politisch funktioniert.»
Der Korrespondent war im März für eine Reportage in Antwerpen in der Region Flandern unterwegs. Dort fragte er die Leute, was sie über ihre Premierministerin wissen – und bekam überraschende Antworten: «Gerade die jungen Menschen wussten nicht einmal, dass es eine neue Premierministerin gibt.»
Die Tiefen Gräben zwischen Flamen und Wallonen prägen seit jeher die belgische Politik. Zwischen den Parteien gibt es schier unüberbrückbare regionale Differenzen. «Sie wollen die Interessen ihrer Regionen vertreten und wollen ihre Positionen wegen einer blossen ‹Beteiligung an der nationalen Regierung› nicht aufgeben», berichtet der SRF-Korrespondent:
«Kommen Sie noch mit?»
Den Konkordanz-Gedanken der Schweiz, der die Interessen zwischen den Sprach- und Kulturräumen ausgleicht, kennt Belgien nicht. Doch der Druck auf die Politiker steigt. «Sollte es bis im September keine Lösung geben, würde es wohl Neuwahlen geben und von denen könnten extreme Links- und Rechtsparteien profitieren», glaubt Rauchenstein.
Belgiens politisches System ist vertrackt und kompliziert. Dazu kommen machtbewusste Parteipräsidenten, Differenzen bei der Klimapolitik und einer Staatsreform sowie Schwesterparteien, die über die Sprachgrenzen hinweg «geteilt» sind. Die belgische Zeitung «Le Soir» brachte es unlängst auf den Punkt: Diese fragte nämlich ihre Leserinnen und Leser: «Kommen Sie noch mit? Nein? Nun, das ist völlig normal.»