Der Konflikt zwischen den USA und dem Iran beherrscht zurzeit die Schlagzeilen und überschattet damit den Machtkampf in Libyen. Dieser wird durch Russland und die Türkei immer mehr zu einem Stellvertreterkrieg. Europa komme aber nur mit eigenen Truppen aus der Zuschauerrolle heraus, sagt der Strategieexperte Daniel Woker.
SRF News: Was stellen Sie sich genau vor unter diesen «europäischen Truppen»?
Daniel Woker: Es ist leider wahr, dass die EU in einer Zuschauerrolle ist. Als eine der Hauptbetroffenen der Krise müsste sie über eine militärische, schnell einsetzbare Komponente verfügen. Sie müsste mit Truppen eingreifen können, um einen Frieden oder einen Waffenstillstand zu erzwingen. Die Folgen eines Flächenbrandes in Libyen wären für Europa katastrophal. Es droht eine neue Flüchtlingswelle.
Die Folgen eines Flächenbrands wären für Europa katastrophal. Es droht eine neue Flüchtlingswelle.
Sie sagen, Europa müsste Truppen schicken. Wie soll das gehen ohne europäische Armee?
Das ist gar nicht so undenkbar. Es gab bereits einmal einen kurzfristigen Einsatz beim Sturz von Gaddafi, mit den Amerikanern im Rücken. Seither hat sich die Lage generell sehr stark verschlimmert. Man kann davon ausgehen, dass die Nato in Libyen nicht eingreifen will, weil die Amerikaner nicht wollen. Zudem ist die Türkei als Nato-Mitglied bereits im Land – aber keineswegs, um die europäische Sicherheit zu garantieren. Europäische Truppen wären also eine absolute Notwendigkeit. Treibende Kräfte müssten Frankreich und Deutschland sein.
Wie könnten sich Frankreich und Deutschland über gemeinsame Truppen so schnell einig werden?
Das ist die grosse Frage. Für einen Einsatz in Libyen ist es wahrscheinlich zu spät. Die Notwendigkeit besteht aber ganz klar. Vor einigen Monaten verlangte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer europäische Truppen. Die politische Entscheidung steht aus, aber sie wird dringender und nicht zu umgehen sein.
Für einen Einsatz in Libyen ist es wahrscheinlich zu spät. Die Notwendigkeit besteht aber ganz klar.
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach schon von einer EU-Armee. Ist das in naher Zukunft realistisch?
Der Druck wächst, dass sich Europa selbständiger verteidigen kann. Nicht nur wegen der Krise in Libyen. Europa braucht eine selbständige politische, aber auch sicherheitspolitische Identität. Nicht zuletzt, um am Tisch der Weltmächte mitreden zu können. Die Kapazitäten sind vorhanden. Es fehlt die politische Entscheidung, solche Truppen gemeinsam einzusetzen. Auch Nicht-EU-Mitglieder sind gefordert. Die Lage verschlechtert sich so schnell, dass das kommen muss und wahrscheinlich auch kommen wird.
Die nationalen Parlamente müssten Kompetenzen abgeben und Mittel frei machen. Ist eine europäische Verteidigung realistisch?
Es sieht relativ schwierig aus. Ich erinnere aber an die Flüchtlingswelle von 2015, die Deutschland wie andere Länder vor eine Krise stellte und den extremen Rechten Auftrieb gab. Wenn in Libyen ein Flächenbrand ausbricht, kommt eine zweite Welle. Dieser Schock wird das Bewusstsein dahingehend ändern, dass auch Europa eine massive sicherheitspolitische Komponente braucht.
Europa wird eine sicherheitspolitische Komponente annehmen müssen.
Sie haben einmal geschrieben, in Frankreich fehle das Geld, in Deutschland der Willen für EU-Truppen?
Das ist richtig. Das heisst aber nicht, dass man nicht in die Zukunft schauen muss. Dort steht ganz eindeutig geschrieben: Europa wird eine sicherheitspolitische Komponente annehmen müssen. Frankreich und Deutschland kämpfen sich jetzt langsam zu diesem Entschluss durch. Das Bewusstsein wächst in Zeiten, wo die USA sich auf sich selbst zurückziehen.
Das Gespräch führte Roger Aebli.