Eigentlich galt die Corona-Pandemie in Indien schon als so gut wie überwunden. Niemand schien mit einer weiteren Welle gerechnet zu haben. Die Krisenstäbe nicht, die Regierung nicht, und auch nicht die Bevölkerung.
Ausgelassen wird dieser Tage das hinduistische Pilgerfest Kumb Mela gefeiert – das könnte mit ein Grund sein, wieso die Fallzahlen wieder ansteigen. Das Land mit 1.4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohnern meldet den fünften Tag in Folge über 350'000 neue Infektionen. Das ist ein globaler Höchstwert.
Zahlen sind womöglich noch höher
Experten warnen, dass diese Zahlen höher sein könnten. Denn in der jetzigen Notlage seien die Spitäler gar nicht in der Lage, jeden Patienten richtig zu diagnostizieren, sagt Thomas Gutersohn, SRF-Korrespondent in Mumbai.
Laut Zeitungsberichten werde oft einfach geschrieben, der Patient sei an einem Herzstillstand gestorben oder an einer Krankheit. An welcher, werde nicht deklariert. Das habe auch damit zu tun, dass viele Familien gar nicht wollten, dass ihr Angehöriger als Covid-19-Patient gilt. «Denn dann würde ihnen eine Kremation versagt werden, wie sie die indische Tradition vorsieht.»
Es fehlt an allen Ecken und Enden
Seit Tagen werden nun Menschen vor überfüllte, komplett überlastete Spitäler gebracht. Der Sauerstoff zur Behandlung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten wird knapp. Andere Länder haben inzwischen reagiert und schicken Sauerstoffflaschen, Beatmungsgeräte sowie Schutzmaterial nach Indien.
Ein weiteres Problem: «Dass nicht genügend Sauerstoff vorhanden ist, treibt den Schwarzmarktpreis in die Höhe», erklärt der Korrespondent. «Viele Leute gehen ausserhalb der Stadt Sauerstoffflaschen für sich selbst besorgen – zu horrenden Preisen, einfach für den Fall, dass man wenigstens Sauerstoff hat, wenn man erkrankt, was die Situation der Spitäler zusätzlich erschwert.»
Die Regierung und die Krisenstäbe hätten die Situation klar nicht mehr im Griff, sagt Gutersohn. In Indien müsse man von einem «nicht deklarierten Notstand» sprechen. «Das bin ich nicht, der das sagt, sagte das Oberste Gericht vor einigen Tagen, weil es schlicht an allen Ecken und Enden fehlt.»
Impfstoffimport statt -produktion
Eigentlich hätte Indien riesige Kapazitäten, um Impfstoffe gegen das Coronavirus selber herzustellen, sagt Gutersohn. «Nur hat es die Regierung in den letzten Monaten – man muss es sagen – verschlafen, Bestellungen zu machen. Die Produktion, die aktuell nötig wäre, wird erst hochgefahren.»
Die Regierung habe erst vor einer Woche begonnen, die Impfstoffproduktion in Indien mit staatlichen Beiträgen zu unterstützen, so der Korrespondent weiter. Mit dem Resultat, dass in Indien eine Impfstoffknappheit herrscht und der grösste Impfstoffhersteller der Welt, das private «Serum Institute of India», sogar gezwungen ist, Impfstoffe aus dem Ausland zu importieren.