Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon will ein zweites Referendum über ein unabhängiges Schottland noch bis Ende nächsten Jahres durchführen – auch ohne die britische Regierung. Ihre gestrige Ankündigung liess das Pfund abstürzen und London reagierte ablehnend. Sturgeon müsse jetzt liefern, auch für ihre Anhängerschaft, sagt die Journalistin Nicola de Paoli in Edinburgh.
SRF News: Warum kommt Sturgeon jetzt mit einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum?
Nicola de Paoli: In Schottland kommt die Ankündigung nicht überraschend. Die Regierung hat seit längerem angekündigt, in der laufenden Legislaturperiode ein weiteres Referendum abzuhalten. Sturgeon hat wohl auch die Sorge, in den eigenen Reihen an Zustimmung zu verlieren.
Premier Boris Johnson stellte den Zeitpunkt Unabhängigkeitsgespräche postwendend in Abrede. Weshalb steuert Sturgeon gerade jetzt auf einen Konflikt mit London zu?
Unabhängigkeitsbewegungen sind eigentlich immer mit Konflikten verbunden, wie das etwa auch die Katalanen in Spanien demonstrieren. Sturgeon nimmt den Konflikt in Kauf. Denn sie will mit ihrer Unabhängigkeitsbewegung nicht langfristig in der Bedeutungslosigkeit versinken, nur weil diese an Tempo verloren hat.
Sturgeon ist von ihrem eigenen Anspruch, die Unabhängigkeit zu schaffen, getrieben.
Was macht Sturgeon so sicher, dass sie das Referendum auch gegen den Willen der britischen Regierung durchboxen kann?
Sturgeon ist natürlich von ihrem eigenen Anspruch, die Unabhängigkeit zu schaffen, getrieben. Damit ist auch etwas Zweckoptimismus im Spiel. Der Zeitpunkt für ein zweites Referendum ist auf jeden Fall nicht gut gewählt, aber ihr läuft die Zeit davon.
Für Sturgeon spricht wiederum, dass die britische Regierung und vor allem Boris Johnson in Schottland sehr unbeliebt sind: Die Corona-Politik der Tory-Regierung und die Skandale um den Premierminister spielten ihr zuletzt in die Hände. Bei den Kommunalwahlen im Mai wurde ihr Kurs bestätigt. Ihre Scottish National Party (SNP) konnte sich über einen weiteren Wahlsieg freuen – den elften in Folge. Sie ist somit auch Opfer ihres eigenen Erfolgs. Sie muss nun liefern.
Wie geht es weiter mit dem Unabhängigkeitsreferendum?
Die Pläne laufen hinter den Kulissen schon seit einiger Zeit auf Hochtouren. Die Regierung weiss seit dem Referendum von 2014, wo die Wählerschaft der Schuh drückt und wo die Bedenken und Probleme liegen. So etwa bei der Frage, ob Schottland das Pfund behalten könnte oder eine eigene Währung entwickeln müsste. Sturgeon reiste im Mai auch in die USA, um das aussenpolitische Profil ein wenig zu schärfen.
Gut vorstellbar, dass der Konflikt irgendwann vor einem Gericht landet, das entscheidet, ob es zu einem Referendum kommt.
Nun wird interessant sein, wie die britische Regierung reagieren wird, denn es ist eine klassische Pattsituation. Gut vorstellbar, dass der Konflikt irgendwann vor einem Gericht landet, das entscheidet, ob es zu einem Referendum kommt oder nicht. Sturgeon muss gleichzeitig im eigenen Land noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Auch das wird nicht leicht.
Das Gespräch führte Yves Kilchör.