Herbst 1939, im elsässischen Dorf Neuwiller: Die achtjährige Marylène hört eine Glocke. Es ist der Evakuationsbefehl der Regierung. Nur Stunden später sitzt sie mit ihrer Familie in einem Zug. «Wir fuhren drei Tage lang und wussten nicht, wohin wir gehen», erzählt sie heute, mehr als 80 Jahre später. «Wir sagten uns, dass die uns ans Ende der Welt bringen.»
Evakuationsbefehl: «Sofort und unverzüglich»
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Bild 1 von 5. Ins Gepäck musste laut Räumungsbefehl: Lebensmittel für mehrere Tage, kleine Transportmittel und das Vieh. Bildquelle: Documentation mémorial-alsace-moselle.
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Bild 2 von 5. Zwischen der Information, dass die Menschen nahe der Grenze weggehen müssen, und der Evakuation lagen oft nur wenige Stunden. Bildquelle: Documentation mémorial-alsace-moselle.
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Bild 3 von 5. Die französische Regierung evakuierte alle Menschen in einem 10 Kilometer breiten Streifen zur Grenze zu Deutschland. Bildquelle: Documentation mémorial-alsace-moselle.
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Bild 4 von 5. Viele kamen aus den Dörfern nach Strassburg und fuhren zusammen mit den Menschen aus der Stadt ins Landesinnere. Bildquelle: Documentation mémorial-alsace-moselle.
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Bild 5 von 5. Viele der evakuierten Familien wussten nicht, wohin sie die Reise führt und wie lange sie der Heimat fernbleiben werden. Bildquelle: Documentation mémorial-alsace-moselle.
Marylène wurde nicht ans Ende der Welt, sondern nach Südfrankreich gebracht. Der französische Staat evakuierte nämlich 1939 einen ganzen Landstreifen – aus Angst, die Deutschen würden die Dörfer nahe der Grenze überfallen.
Das Schicksal der jungen Elsässerin Marylène ist die Geschichte der grossen Evakuierung. Ein fast vergessener Abschnitt des Zweiten Weltkriegs. Ein Streifen - etwa 10 Kilometer ins Landesinnere hinein - an der Grenze zu Deutschland wurde damals von den französischen Behörden evakuiert.
Erzählt hat die Geschichte Podcast-Macherin Livia Grossenbacher im Rahmen ihrer Masterarbeit. «Mich fasziniert an dieser Geschichte, dass es direkt hinter der Schweizer Grenze passiert ist», sagt Grossenbacher. Marylène ist die Grossmutter ihrer Frau.
Als Elsässerin spricht Marylène Deutsch – in Südfrankreich während des Zweiten Weltkriegs war das keine einfache Voraussetzung. «Wir galten als halbe Deutsche, von den Älteren konnte fast niemand Französisch.» Trotzdem fühlte sie sich immer als Französin.
Rückkehr in ein besetztes Dorf
1940, ein Jahr später, kehrte Marylène zurück nach Neuwiller. In ein Dorf, das nun von den Nationalsozialisten besetzt war. Ihre Heimat, das ganze Elsass, war von den Deutschen besetzt. «Sie empfingen uns mit Fahnen und wir mussten ein deutsches Lied singen», erinnert sich Marylène.
Marylène kämpfte während des ganzen Kriegs dafür, eine französische Elsässerin sein zu dürfen.
Die Frage nach der Identität sei die grosse Kernfrage des Podcasts, sagt Autorin Livia Grossenbacher: «Marylène kämpfte während des ganzen Kriegs dafür, eine französische Elsässerin sein zu dürfen. Das hat mich sehr fasziniert.»
Livia Grossenbacher produzierte die fünfteilige Podcastserie im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Die ZHdK zeichnete sie dafür mit dem Förderpreis aus.