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Zweiter Weltkrieg Veteran: «Hitler war überzeugt, es sei ein Ablenkungsmanöver»

Fast 160’000 Soldaten der Alliierten landen am 6. Juni 1944 in Nordfrankreich, östlich von Cherbourg. Darunter auch der Brite John Roberts. Es ist der Anfang vom Ende der Nationalsozialisten. Die deutsche Wehrmacht leistet zu Beginn überraschend wenig Widerstand, erinnert sich der heute 100-jährige Veteran. Heute sorgt er sich um die Zukunft seiner Enkel.

John Roberts

Kriegsveteran

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John Roberts (*4.4.1924) ist einer der wenigen noch lebenden britischen Veteranen, die am 6. Juni 1944 an der Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie beteiligt waren. Er trat im Alter von 13 Jahren in die britische Marine ein und diente bis 1978, zuletzt als Konteradmiral. Bei der Landung am 6. Juni 1944 war er Unterleutnant auf dem Zerstörer-Schiff HMS Serapis. Seine eigentliche Aufgabe wäre es gewesen, am Radarschirm deutsche U-Boote aufzuspüren. Doch da in den seichten Gewässern des Ärmelkanals in Küstennähe nicht mit deutschen U-Booten zu rechnen war, wurde Roberts auf die Brücke beordert, um dort nach gegnerischen Schiffen oder Flugzeugen Ausschau zu halten.

John Roberts ging in der Normandie nicht an Land. Zerstörer-Schiffe hatten die Aufgabe, deutsche Stellungen und Einrichtungen hinter der Frontlinie zu beschiessen. Nachdem es den Alliierten gelungen war, ihre Präsenz in der Normandie zu festigen, wurde Roberts' Einheit mit der HMS Serapis nach drei Wochen abgezogen und in die Nordsee geschickt, zu Kampfhandlungen vor Norwegen.

SRF News: John Roberts, wie haben Sie die Landung erlebt?

John Roberts: Ich erinnere mich an die Nacht der Überfahrt, als wäre es gestern gewesen. Es war eine ruhige, klare Nacht. Die Fahrt über den Ärmelkanal verlief geordnet, praktisch ohne Zwischenfälle. Ich hielt auf der Brücke des Zerstörers Serapis Ausschau nach Flugzeugen oder Schiffen des Feindes.

In der Ferne sah ich viel Licht und Feuer, da alliierte Flugzeuge zwischen Le Havre und Cherbourg deutsche Stellungen bombardierten. Wir verkehrten mit etwa 15 Kilometern pro Stunde, da die Minenräumboote vor uns nicht schneller verkehren konnten.

Was geschah am D-Day? Und wer war daran beteiligt?

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Als D-Day wird die Landung der alliierten Streitkräfte am 6. Juni 1944 in der Normandie bezeichnet. Federführend waren die britischen und die amerikanischen Streitkräfte. Sie stellten am meisten Soldaten. Beteiligt waren auch Einheiten aus Kanada, Frankreich, Polen, der Tschechoslowakei, Norwegen, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden, Dänemark, Griechenland und Australien.

Eigentlich sollte die Landung am 5. Juni 1944 erfolgen, wurde jedoch wegen des schlechten Wetters um einen Tag verschoben. Nahezu 160’000 Soldaten überquerten in den frühen Morgenstunden den Ärmelkanal – zu Wasser und in der Luft. Die Operation Overlord hatte zum Ziel, eine Bresche in den Atlantikwall der deutschen Wehrmacht zu schlagen, der von Skandinavien bis nach Spanien verlief. Mit Erfolg. Den Alliierten gelang es, einen Brückenkopf im Nordwesten Frankreichs zu errichten und die deutschen Besatzer zurückzudrängen.

Vom 6. Juni 1944 bis zur Befreiung von Paris am 19. August 1944 landeten über 2 Millionen alliierte Armeeangehörige in der Normandie. Bis zur Kapitulation der deutschen Truppen in Nordfrankreich wurden über 230’000 Alliierte getötet, verletzt oder vermisst. Die deutschen Streitkräfte zählten 30‘000 Tote und rund 80‘000 Verletzte. Über 140’000 Deutsche wurden gefangen genommen; gegen 60‘000 Deutsche vermisst. Die Gesamt-Opferzahl der Normandie-Schlacht wird auf rund 550‘000 geschätzt.

Und um 7:30 Uhr gingen in Ihrem Abschnitt vor Ouistreham die ersten Soldaten an Land.

Ich glaube, es war um 7:35 Uhr. Doch der grosse Moment für meine Einheit war schon kurz nach 7 Uhr: Von unserem Zerstörer aus feuerten wir minutenlang auf die deutschen Befestigungen hinter der Küstenlinie, hinter dem Strand. Und 10 Minuten vor der Landung flogen unsere Kampfflugzeuge über den Strand und warfen 220 Kilo schwere Bomben ab, um die deutschen Abwehreinrichtungen zu zerstören. Es war ein Feuerwerk, ununterbrochen.

Die Operation Overlord war hochkomplex, Armee-Einheiten verschiedenster Länder waren beteiligt. Da hätte vieles schiefgehen können. Ging Ihnen dies durch den Kopf?

Nein. Ich blieb auf meine Aufgabe konzentriert. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich sagen: Wir hatten auch Glück. Am Tag vor der Landung gab es in der Normandie einen grossen Sturm. Und der verantwortliche deutsche General, Erwin Rommel, rechnete nicht mit unserer Invasion. Er flog kurz entschlossen nach Hause nach Deutschland, zum Geburtstag seiner Frau. Es ist uns gelungen, die Deutschen zu überrumpeln.

Die deutsche Wehrmacht rechnete seit langem mit einer Invasion, hatte deshalb den Atlantikwall verstärkt. Und doch wurde sie überrascht.

Natürlich wussten sie, dass es eine Invasion geben würde. Doch Hitler war sich sicher, dass die Invasion von Dover aus erfolgen würde. Hitler war ein Armee-Stratege. Und ein Stratege denkt, die beste Stelle liege bei der kürzesten Entfernung – und das ist zwischen Dover und Calais. Er war überzeugt, dass die Invasion dort stattfinden würde und dass alles andere nur ein Ablenkungsmanöver sei. Nun, in Wirklichkeit war es das nicht.

Und doch gab es in den ersten Stunden der Landung Tausende Tote auf alliierter Seite – insbesondere im amerikanischen Abschnitt, an der Utah Beach und Omaha Beach.

Die Amerikaner hatten eine schwierige Aufgabe. Sie mussten dort, wo sie gelandet waren, eine Klippe hochklettern, nachdem sie einen breiten Strand überquert hatten. Die Deutschen waren in einer perfekten Position, um auf die Leute am Strand zu schiessen.

Der Gedanke, dass mein bald 18-jähriger Enkel womöglich bald in den Krieg ziehen muss, ist grauenhaft.

Auch da, wo wir Briten landeten, gab es einen breiten Strand zu überqueren. Doch das Hinterland war flach. Und die Deutschen konnten nicht von oben herab auf unsere Soldaten schiessen.

Mit Ihrem Schiff lagen Sie vor dem Sword Beach bei Ouistreham. Wie viel Widerstand gab es da?

Weniger, als wir erwartet hatten. Und trotzdem gab es Hunderte Tote. Ich vergass fast zu erwähnen, dass wir schon eine Stunde vor der Landung erste Opfer zu beklagen hatten: Einer unserer Zerstörer, der etwa 1000 Meter von uns entfernt lag, wurde von einem deutschen Torpedo getroffen.

Vier deutsche Schiffe waren vom Hafen von Le Havre aus wie jeden Morgen zur Patrouillenfahrt ausgelaufen und stiessen überrascht auf unsere Armada. Da feuerten die Deutschen ihre Torpedos ab. Und das getroffene Schiff sank innerhalb weniger Minuten. Dabei starben 33 Marinesoldaten auf einmal.

Dachten Sie da, das sei ein schlechter Start?

Nein. Es erinnerte einen lediglich daran, dass es kein Spiel war. Bis dahin war alles ganz einfach gewesen: Wir fuhren von Portsmouth her über den Ärmelkanal – und nichts geschah. Und dann das. Da merkten wir wieder, wie ernst es war.

Waren Sie sich des Ausmasses des Krieges bewusst oder war das etwas, worüber Sie damals nicht nachdenken konnten?

Nun gut. Ich sollte es eigentlich so nicht sagen, aber damals habe ich den Krieg fast genossen. Das klingt jetzt komisch. Nein. Genossen trifft es nicht ganz. Sagen wir es so: Ich wäre traurig gewesen, wenn ich ihn verpasst hätte, während andere Leute in meinem Alter dabei gewesen wären. Als junger Mann wollte ich unbedingt dabei sein.

Und wie denken Sie heute über die Millionen von Toten und die grosse Zerstörung während des Zweiten Weltkriegs?

Über diese furchtbaren Verluste? Es ist einfach nur schrecklich. Und jetzt sind wir vielleicht bald wieder in so einer Situation. Der Gedanke, dass mein bald 18-jähriger Enkel womöglich bald in den Krieg ziehen muss, ist grauenhaft. Ich hoffe sehr, dass es nicht so weit kommt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten alle geschworen, so etwas niemals wieder zuzulassen.

zwei ältere Herren stehen auf Kiesplatz, grösserer Mann rechts mit einem Rollator, im Anzug mit Medaillen.
Legende: Die D-Day-Veteranen John Roberts (rechts) und Stan Ford vor der Entgegennahme ihrer Gedenkplaketten zum 80. Jahrestag des D-Day vor der Normandie-Gedenkmauer in Portsmouth. (27.2.2024) Getty Images / Gareth Fuller

Sie tragen mehrere Medaillen – von König Georg VI, von Königin Elizabeth II. Es hat aber auch eine russische dabei.

Richtig. Und Sie werden sich wundern: Ich habe insgesamt drei Medaillen von Russland bekommen. Im Zweiten Weltkrieg haben wir Alliierten mit den Russen Seite an Seite gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Das geht heute fast vergessen. Nach dem Krieg hat Russland Medaillen an Leute vergeben, die an Konvois nach Russland teilgenommen haben.

Russland hat jedes Mal schrecklich gelitten. Ich weiss nicht, warum Putin den grossen Konflikt sucht.

Ich habe drei russische Medaillen erhalten. Bei den ersten beiden haben mir die Briten nicht erlaubt, sie anzuheften. Als Wladimir Putin die dritte Medaille schicken wollte, sagte er, dass er sie nur schicke, wenn unsere Vorgesetzten uns erlaubten, sie zu tragen. Ich bekam die Erlaubnis. Aber da sie von Putin ist, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich sie weiterhin tragen oder sie zurückschicken sollte.

Was denken Sie über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine?

Ich verstehe nicht, warum Putin den Krieg begonnen hat. Er kann ihn nicht gewinnen. Russland weiss aus Erfahrung, wie es war, als Napoleon einmarschierte. Und dann Hitlers Truppen. Russland hat jedes Mal schrecklich gelitten. Ich weiss nicht, warum er den grossen Konflikt sucht.

alter Mann mit weissem Haar und kurzem Bart, hält weisses Papier mit Aufschrift: «Don't let it happen again.»
Legende: «Ich hoffe, dass die Gedenkfeiern im Juni einer ganz neuen Generation helfen werden, die Opfer zu verstehen, die für sie gebracht wurden.» (27.02.2024) MOD Crown Copyright

Wladimir Putin hat auch schon mit seinen Atomwaffen gedroht. Wie ernst ist dies zu nehmen, was denken Sie?

Ich weiss es nicht. Falls Russland eine Atomrakete mit grosser Reichweite abfeuern sollte, würden die Amerikaner bestimmt mit grosser Kraft zurückfeuern. Frankreich hat auch Atomwaffen mit langer Reichweite. Wir Briten haben Atom-U-Boote, die bis nach Russland reichen. Die ganze Welt würde untergehen.

Sie machen sich Sorgen?

Wenn es passieren sollte, werde ich es nicht mehr erleben. Ich glaube nicht, dass ich noch viele Jahre leben werde. Ich bin ja schon 100 Jahre alt.

Das Gespräch führte Michael Gerber.

Tagesschau, 04.06.2024, 19:30 Uhr ; 

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