In der San Francisco Bay Area ist der Zukunftsglaube zu Hause. Hier leben junge Menschen, die vom eigenen Erfolg überzeugt sind, von einer besseren Zukunft für die Menschheit – und von der Strahlkraft und Stärke der USA.
Die Region mit San Francisco und dem Silicon Valley im Bundesstaat Kalifornien durchlebt eine Gründerzeit. Diese Gründerzeit erinnert an den dortigen Goldrausch Mitte des 19. Jahrhunderts und an die Digitalisierung, die einst von hier aus ihren weltweiten Siegeszug angetreten hat.
Das Gold der Zukunft heisst künstliche Intelligenz, abgekürzt: KI. Start-ups wie OpenAI und Grosskonzerne wie Google wetteifern um die besten Talente, die verrücktesten Ideen, die höchsten Gewinne. Im festen Glauben daran, dass die Menschheit wieder am Beginn eines neuen Zeitalters steht, des KI-Zeitalters.
Die Unternehmen in der Bay Area kämpfen aber auch gemeinsam gegen den grossen Rivalen der USA – gegen China. Noch liegen die USA bei der KI vorn. Doch China ist dicht auf den Fersen und hat die USA in anderen Zukunftstechnologien, wie etwa bei der Robotik und Elektroautos, bereits überholt.
KI bringt nicht nur wirtschaftliche und soziale Chancen und Risiken. Sie wird immer mehr auch zum geopolitischen Machtfaktor. In der Analyse sind sich die amerikanische Regierung in Washington und die chinesische in Peking einig: Wer die mächtigste Nation der Welt sein will, muss die beste KI-Industrie haben.
Ein neues Zeitalter: Wie KI die Welt revolutioniert
«Künstliche Intelligenz gibt Zugang zur geballten Weisheit der Menschheit und das mit elektronischen Geräten, die jeder hat», sagt Jerry Kaplan, Unternehmer und Dozent an der Stanford Universität: «Das verändert alles.» Kaplan beschäftigt sich als Informatiker, Unternehmer und Autor seit Jahren mit KI. Er sieht die neue Technologie zunächst einmal als grosse Chance. Sie könne Wohlstand schaffen und die Menschen von unangenehmen Arbeiten befreien.
Künstliche Intelligenz bedeutet, dass Computer Aufgaben in einer Art erledigen können, die der des Menschen ähnlich ist. Sie lernen dazu und entwickeln eigene Strategien, um Probleme zu lösen. Sie können sich mit den Menschen unterhalten.
Daran geforscht wird seit den 1950er-Jahren, doch lange blieb die KI ein Nischenfeld für Fantasten. Bekannt wurde sie vor allem durch Anwendungen wie ChatGPT der Firma OpenAI.
ChatGPT ist ein sogenannter Chatbot. Die Nutzerinnen und Nutzer können sich schriftlich Fragen beantworten, aber zum Beispiel auch Texte redigieren lassen.
Die Möglichkeiten sind schier grenzenlos. Die Firma Engineered Arts entwickelt Roboter, die sich mit Menschen unterhalten können, Mimik und Gestik inklusive. Das bekannteste Modell heisst Ameca.
Wer von der Begeisterung für KI mitgerissen werden will, sollte einen Hackathon besuchen. Irgendwo in San Francisco gibt es fast täglich einen. Zum Beispiel von AGI House.
An einem Sonntag treffen sich ein paar Dutzend Informatikerinnen und Unternehmer aus der ganzen Welt in einer Villa hoch über San Francisco. Alex Iswarya, eine junge Software-Ingenieurin, will einen KI-Kellner entwickeln, der sie im Restaurant berät: «Ich liebe es, im Silicon Valley zu sein, besonders bei Hackathons, wo ich andere Gründer und Start-ups treffe und neue Tools entdecke.»
KI kommt längst in selbstfahrenden Autos zur Anwendung, macht Maschinen effizienter, bringt die medizinische Forschung voran. Und sie ist auch im Krieg unabdingbar geworden. Microsoft, Palantir, SpaceX und andere amerikanische Tech-Konzerne unterstützen die Ukraine mittels KI in ihrem Abwehrkampf gegen Russland.
Doch KI bringt neben Chancen auch Risiken und Nebenwirkungen, sie schürt Ängste. KI-Vordenker Jerry Kaplan warnt, KI könne immer wirksamer dafür verwendet werden, Menschen zu täuschen und zu überwachen. Aufsehen erregen immer wieder sogenannte Deepfake-Videos, in denen Politikerinnen und Politikern Sachen sagen, die sie nie gesagt haben.
Bay Area: Vom Goldrausch zur Goldgrube
Der Pionier- und Erfindergeist reicht weit zurück. Sie beginnt mit dem Goldrausch, der ab 1848 die Gegend um San Francisco erfasst und wird 1976 fortgeschrieben von Steve Jobs, der mit zwei Freunden in einer Garage die Firma Apple gründet.
Im Silicon Valley herrsche eine «Kultur des heldenhaften Gründers», sagt Hackathon-Unternehmer Jeremy Nixon, das Gefühl, dass jede und jeder etwas Einzigartiges schaffen könne.
Über Jahrzehnte ist ein Ökosystem herangewachsen, in dem jetzt die KI-Industrie gedeiht: Mit Stanford und Berkeley gibt es hier zwei der besten Universitäten der Welt, kaum Regeln, welche die KI einschränken, Milliardeninvestitionen und Steuerrabatte für Start-ups – und eine hohe Zuwanderung der gescheitesten Köpfe aus der ganzen Welt.
Zwar haben je nach Messgrösse, die man zu Rate zieht, mal die USA, mal China die Nase vorn. Doch etwas gelinge in den USA wie nirgendwo sonst, sagt KI-Experte Jeffrey Ding: Die neuen Innovationen finden rasch ihren Weg in die Gesamtwirtschaft und in den Alltag der Menschen.
Bereits 2023 wurde der weltweite KI-Markt auf 140 Milliarden Dollar geschätzt, bis 2030 soll daraus eine 2000-Milliarden-Dollar-Goldgrube werden. Nicht jede Einzelinvestition wird sich lohnen, Experten prophezeien für die kommenden Jahre viele Flops und Pleiten. Doch für die USA als Volkswirtschaft und Grossmacht wird sich der Boom langfristig auszahlen.
Sicher ist: Konkurrenz haben die beiden KI-Supermächte kaum zu fürchten. Grossbritannien, Israel oder Südkorea haben zwar eine ernstzunehmende KI-Industrie, liegen aber weit hinter den USA und China zurück. Und die EU feiert zwar ihr neues KI-Gesetz, droht aber gerade seinetwegen den Anschluss zu verpassen.
USA versus China: Der Glaube an die globale Tech-Dominanz
2017 erklärte die chinesische Führung globale KI-Dominanz zum Staatsziel. Zwei Jahre später zog US-Präsident Donald Trump mit einem ähnlichen Erlass nach. Der Tech-Wettstreit zwischen den beiden Ländern werde «in den kommenden Jahren das grosse Duell sein», prophezeit Ex-Google-Chef Eric Schmidt.
Das Duell werde bisweilen als «neuer Kalter Krieg, ein neues Wettrüsten beschrieben», sagt Alex Hanna, Forschungsdirektorin der KI-kritischen Denkfabrik DAIR. Tatsächlich aber brauche es mehr internationale Zusammenarbeit, gerade auch zwischen den verfeindeten KI-Supermächten.
Jeff Ding schlägt vor, die Kooperationspraxis des ersten Kalten Kriegs wiederzubeleben. Damals tauschten die USA und die Sowjetunion Details zu ihren Waffenarsenalen aus, um einen Atomkrieg aus Versehen zu verhindern.
Doch ob die Trump-Regierung dafür Hand bieten wird, ist offen. Mike Waltz, der designierte Nationale Sicherheitsberater, will gegen die Unterwerfung durch China «bis zum bitteren Ende kämpfen».
KI-Vordenker Jerry Kaplan hält Kriegsrhetorik für fehl am Platz. Wie einst die Elektrizität werde sich künstliche Intelligenz rasch verbreiten und irgendwann überall verfügbar sein. Es sei gar nicht möglich, eine solche Technologie zu «beherrschen».
Und doch prophezeit er düsteres: Mit ihren Möglichkeiten von Deepfake bis Überwachung helfe KI «nicht den Demokratien, sondern den Autokratien». Künstliche Intelligenz könne die Welt verbessern, sie aber auch unfreier machen.
Der Zukunftsglaube in der San Francisco Bay Area, der Glaube an eine bessere Zukunft für die Menschheit und an die Strahlkraft der USA: All das könnte auch wieder infrage gestellt werden – vom Schadenspotenzial der KI.