Boris Johnson tritt bei all seinen Erfolgen regelmässig in Fettnäpfe und nimmt es mit der Wahrheit nicht allzu genau. US-Präsident Joe Biden hat ihn einst gar als britischen «Mini-Trump» bezeichnet. Wie alle Zuspitzungen greift auch diese zu kurz. Der Mann, der eben sein Wahlversprechen umgesetzt und den Brexit vollzogen hat, ist vielschichtiger.
Der bekannte britische Journalist und Autor Tom Bower hat den verschlungenen und chaotischen Lebensweg des britischen Premierministers auf rund 600 Seiten nachgezeichnet. «Boris Johnson – The Gambler», also der Spieler, heisst die Biografie.
Keine schöne Kindheit
Wenn alles schiefläuft und die Zumutungen des Alltags unerträglich werden, dann verschickt Boris Johnson nicht zornige Tweets, sondern atmet tief durch und rezitiert Gedichte. Am liebsten die «Ilias» von Homer auf Altgriechisch. «Dies ist genau, was ich tue, wenn ich in Schwierigkeiten bin», erklärte er unlängst während einer Talk-Show, «ich rezitiere vor mich hin.»
Johnson kokettiert bei Auftritten gerne mit seiner altphilologischen Bildung. Er ist unbestritten ein heller Kopf. Bereits im Alter von fünf Jahren soll er die Leitartikel im konservativen «Daily Telegraph» gelesen haben. Später hat er an der Elite-Universität Oxford studiert. Vorgezeichnet war dies nicht unbedingt. Denn es ist keine glückliche Familiengeschichte, welche der Autor Tom Bower über den britischen Premierminister zusammengetragen hat.
«Sein Vater war gewalttätig gegenüber seiner Mutter», erzählt Tom Bower im Gespräch. Boris habe als Zehnjähriger miterlebt, wie Stanley Johnson seiner Frau Charlotte im Streit die Nase gebrochen habe. Mehrere Monate verbrachte die Mutter in einer psychiatrischen Klinik. «Boris lebte als Kleinkind in schrecklicher Armut umgeben von Chaos und Unglück.»
Bower ist überzeugt, dass die späteren Scheidungen von Johnson, aber ebenso sein chaotischer Lebensstil und seine Beziehungen zu Frauen und zu Männern sehr stark von seiner Jugend geprägt sind. Es ist keine schöne Kindheit, die Bower mit Akribie und mit über hundert Interviews in dieser unautorisierten Biografie rekonstruiert. Chaos und Instabilität wurden Boris Johnson buchstäblich in die Wiege gelegt.
Johnson und die Frauen
Als britische Klatschreporter kurz vor seiner Wahl zum Premierminister im Sommer 2019 ausrückten, weil sie hörten, dass es zu einem lauten Streit zwischen Johnson und seiner Freundin Carrie Symonds gekommen sei, konnten sie nicht herausfinden, um was es genau ging.
Sie kehrten jedoch mit einem Bild seines Autos zurück. Dieses stand vor dem Haus von Carrie Symonds im Parkverbot. Zugemüllt mit Zeitungen, zerknitterten Kleidern, leeren Kaffeebechern und Essensresten. Das Bild habe viele Britinnen und Briten mehr schockiert, als der nächtliche Streit mit einer Frau, schreibt Bower.
Wie sein Vater und die alten Griechen hält auch dieser nicht allzu viel von der Monogamie. Seine Biografie ist eine endlose Saga von Affären und Ehebrüchen. Der Mann, der so unterhaltsam wie verletzlich ist, scheint eine grosse Anziehungskraft auf Frauen zu haben.
«Die meisten Komödianten haben hinter der Kulisse einen Hang zur Depression. So auch Boris Johnson. Er ist seit seiner Jugend ein Einzelgänger mit wenig Freunden. Johnson brauchte immer wieder Frauen, die ihn mental, spirituell und intellektuell begleitet und unterstützt haben.» Häufig seien diese Frauen seine Geliebten geworden, erzählt Bower.
Johnson brauchte immer wieder Frauen, die ihn mental, spirituell und intellektuell begleitet und unterstützt haben.
Eingesperrt in einer Dienstwohnung in Downing Street ist das im Moment ein bisschen schwierig. Aber Boris sei es in Beziehungen immer früher oder später langweilig geworden und das Vakuum werde dann mit seelenverwandten Frauen gefüllt.
Die Krux mit der Wahrheit
Boris Johnson hat nicht nur Frauen angelogen, sondern als Journalist ebenso seine Leser und als Politiker die Öffentlichkeit. So schrieb er als EU-Korrespondent, in Brüssel gebe es ein Gesetz, dass die exakte Krümmung von Bananen vorschreibe – dies war so falsch wie die Behauptung, Grossbritannien werde jede Woche 400 Millionen Franken sparen, wenn das Land aus der EU austrete.
Johnson hat Trump für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Obama dagegen attestierte er einen «Kolonial-Komplex», weil er Halb-Kenianer sei. Als britischer Aussenminister sei Johnson eine serielle Blamage gewesen, meint Biograf Bower im Gespräch mit einer Gruppe von Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten in London.
«Während internationalen Konferenzen wie dem G7-Gipfel oder der Sicherheitskonferenz in München hat er sich immer wieder völlig unpassend benommen und einige sehr dumme Dinge gesagt. Daran gibt es keinen Zweifel. Er kann seine Impulse nicht kontrollieren», schreibt Bower. Die deutsche Regierung sei entsetzt gewesen, als Johnson als Aussenminister auf Besuch in Deutschland war. «Der damalige Aussenminister Frank-Walter Steinmeier empfand Boris als einen kompletten Witz und nannte ihn einen Clown.»
Die Wahrheit über Boris Johnson ist, dass er ein Kapitalist ist.
Solche Fehltritte hätten die Karrieren anderer Leute längst beendet. Doch die Britinnen und Briten haben Johnson immer wieder verziehen. Johnson sei zwar ein unberechenbarer Narzisst, aber kein Rassist. Chaotisch, aber nicht bösartig, mit der Gabe die Menschen zum Lachen zu bringen. Sein jovialer und leicht tollpatschiger Auftritt bedeute jedoch nicht, dass er keine politische Mission habe.
«Die Wahrheit über Boris Johnson ist, dass er ein Kapitalist ist. Er glaubt an den technischen Fortschritt und an den Erfindergeist und er propagiert tiefe Steuern. Als Bürgermeister von London flog er ständig um die Welt, um für seine Stadt zu werben, und London wurde 2016 die beliebteste Stadt der Welt mit Rekordinvestitionen.»
Johnson sei ohne Zweifel ein erfolgreicher Bürgermeister gewesen. Er habe sich im Kampf gegen die Armut engagiert, ebenso für die Bildung von benachteiligten Kindern und sein grosses Interesse gelte der Wissenschaft. «Es ist deshalb so falsch wie billig zu sagen, Johnson habe keine politische Vision.»
Vom Spieler zum Krisenmanager
Seine erste Vision hatte er bereits als Kind. Gemäss seiner Mutter wollte der kleine Boris «König der Welt» werden. Der «Gambler» und Hochseiltänzer schaffte es immerhin bis zum britischen Premierminister. Seine Spielzüge sind meistens aufgegangen. Die jüngste und anspruchsvollste Partie ist jedoch noch offen – und an dieser wird er einst gemessen: an seiner Rolle als Krisenmanager während der Pandemie. Diese ist kein Witz, kein Spiel, keine griechische Tragödie, sondern eine tödliche Krise.