Ein eisig-kalter Wintertag im Neuenburger Jura: Ennet der nahen Grenze zu Frankreich ist Kanonen-Donner zu hören, aber schon in diesen letzten Januar-Tagen im Jahr 1871 ist klar: Frankreich ist geschlagen, seine Ost-Armee von den preussisch-deutschen Truppen gehetzt, demoralisiert und eingekesselt. Ihr bleibt kein anderer Ausweg, als in der Schweiz Zuflucht zu suchen.
Suizid-Versuch des Generals
Charles Denis Bourbaki, der General der französischen Ost-Armee, hatte angesichts der trostlosen Situation am 26. Januar versucht, sich das Leben zu nehmen. General Justin Clinchant übernahm die Truppen. Von Bourbaki blieb der Armee nur der Name. Und auch was bald darauf folgte, trägt seinen Namen: Bourbaki-Internierung.
In der Nacht auf den 1. Februar 1871 handelte ein Gesandter Clinchants mit dem Schweizer General Hans Herzog die Internierungsbedingungen aus. Zu verhandeln gab es allerdings kaum etwas, vielmehr diktierte die Schweiz. Frankreichs Gesandter war mit fast allen Punkten einverstanden. Er wehrte sich lediglich gegen eine sofortige Versteigerung der Armeepferde, welche General Herzog vorgeschlagen hatte, weil in der Schweiz Pferde rar waren.
Gleich darauf begann der Grenzübertritt der geschundenen französischen Soldaten in die sichere Schweiz. Die meisten kamen über Les Verrières im Val de Travers, andere sonst wo im Neuenburger und Waadtländer Jura. Innerhalb von nur rund 48 Stunden kamen 87'847 Soldaten in die Schweiz – etwa drei Prozent der damaligen Bevölkerung.
Spontane Hilfsaktionen und «Liebessteuer»
Die Bourbaki-Armee musste sich verpflichten, sofort nach dem Grenzübertritt die Waffen abzugeben. Deutschland kontrollierte die Entwaffnung. Mit der Entwaffnung sorgte die Schweiz als internierender Staat dafür, dass die internierte Armee neutralisiert wurde. Sie musste überdies sicherstellen, dass die französischen Truppen nicht mehr in den Krieg mit Deutschland eingreifen konnten. Dazu gehörte auch die Bewachung der internierten Truppen.
Es kamen gewaltige Mengen an Waffen zusammen: gegen 300 Geschütze, rund 63'000 Gewehre, fast 65'000 blanke Waffen, etwa Säbel und Dolche. Der Abtransport der Waffen aus den Grenzorten war eine riesige logistische Aufgabe. Sie konnte erst erfolgen, nachdem die Strassen frei waren von Soldaten, toten Pferden und defektem Kriegsmaterial.
Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung war aussergewöhnlich. In seinem Buch «Die Internierung der Bourbaki-Armee 1871» schreibt der Historiker Patrick Deicher: «Die französischen Soldaten erweckten beim Übertritt einen erschreckenden Eindruck. Viele marschierten mit nackten oder Stoff-umwickelten Füssen.»
Und in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 7. Februar 1871 ist zu lesen: «Die Bevölkerung der Dörfer im Val de Travers verrichtet Wunder der Hingebung und entblösst sich von Allem, um dieses Übermass von Elend zu erleichtern.»
Der Vorsteher des damaligen Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Emil Welti, hatte ursprünglich mit etwa 10'000 Soldaten gerechnet, die zu beherbergen sein würden. Dafür hätten die eigenen Kasernen gereicht. Als dann aber fast 90'000 kamen, wurden den Kantonen Kontingente zugeteilt. So wurden die Soldaten in rund 200 Gemeinden in der Schweiz untergebracht.
Da waren oft Improvisationsgabe und schnelles Handeln gefragt. Der Historiker Patrick Deicher schreibt etwa von einem Appell der Aargauer Regierung an den «opferwilligen und mildtätigen Sinn der Bürger». Sie ordnete eine «freiwillige Liebessteuer» per 26. Februar an, die in den Kirchen nach dem Morgengottesdienst eingezogen werden sollte. Der Ertrag war an die Direktion des Innern des Kantons abzuliefern.
In Luzern etwa wurde die barocke Jesuitenkirche für ein paar Nächte umgenutzt. Mit zwei Feuerstellen im Innern wurde die Kirche geheizt, sodass über 1000 Soldaten dort übernachten konnten.
Soldaten brachten Seuchen ins Land
Viele der Soldaten waren krank. Oft litten sie an Infektionskrankheiten wie Pocken oder Typhus. Eine Ausbreitung von Typhus in der Schweiz konnte verhindert werden. Aber die Pockenepidemie breitete sich aus. «Allein im Kanton Bern erkrankten etwa 2700 Menschen und ungefähr 500 starben», schreibt Deicher.
Noch viel grösser war die Zahl der Todesopfer unter den französischen Soldaten. Laut Patrick Deicher verstarben während der Internierungszeit in der Schweiz 1701 französische Armeeangehörige. Die meisten Opfer habe der Typhus mit 905 Toten gefordert.
Meistens wurden die verstorbenen französischen Soldaten in den Aufenthaltsgemeinden beerdigt. Französische Soldaten aus den Kolonien in Nordafrika, welche muslimischen Glaubens waren, durften in der katholischen Stadt Luzern auf dem protestantischen Friedhof bei der Hofkirche beerdigt werden.
Gegen Ende März 1871 konnten die meisten französischen Soldaten in ihre Heimat zurückkehren. Nachdem Frankreich die Kosten von rund zwölf Millionen Franken bezahlt hatte, gab die Schweiz auch die Waffen zurück.
Folgen für die Schweiz
Die Schweiz habe die «von aussen an sie herangetragenen Aufgaben besser gelöst, als die innere Situation hätte annehmen lassen», schreibt der Historiker Hans von Greyerz in einem Artikel im «Handbuch der Schweizer Geschichte». Und es wurden in der Folge tatsächlich Reformen eingeleitet. So wurde die Armee zentralisiert. Das Land erhielt schon 1872 ein neues Eisenbahngesetz und 1874 eine neue Verfassung.
Die bewaffnete Neutralität der Schweiz konnte mit der Aufnahme der Bourbaki-Armee ihren Ruf verbessern – sowohl in der Schweizer Öffentlichkeit als auch im Ausland. Die Einsicht wuchs, dass Neutralität nicht einfach aus Abseitsstehen und tatenlosem Zuschauen besteht.
Herausforderung für das Rote Kreuz
Für das erst gerade gegründete Schweizerische Rote Kreuz war die Internierung der Bourbaki-Armee – und überhaupt der deutsch-französische Krieg – die erste ganz grosse Aufgabe.
Aber es wurde zusammen mit elf weiteren Rotkreuzgesellschaften von neutralen oder nicht am Konflikt beteiligten Staaten zu einem wichtigen Pfeiler der internationalen Solidaritätsbewegung zugunsten der Kriegsverletzten. Es schickte Sanitätspersonal, Ärzte und Hilfsgüter auf die Schlachtfelder und in die Kriegslazarette. Damit trug es wesentlich zur «Politik der guten Dienste» der Schweiz bei.