Chemnitz. Kulturhauptstadt 2025, «Stadt der Moderne», die Stadt, die vor zwei Jahren traurige Bekanntheit erlangte, weil Neonazis aufmarschierten. Dort bin ich geboren. Damals hiess es allerdings noch Karl-Marx-Stadt und lag hinter der Mauer.
Man könnte meinen, mehr DDR geht nicht: Im Zentrum der Stadt steht das Karl-Marx-Monument, oder wie man in Sachsen sagt, der «Nischel». Beeindruckende sieben Meter hoch, die zweitgrösste Porträtbüste der Welt. Sie sollte uns wohl damals immer daran erinnern, welche Ideologie die DDR für sich beanspruchte: Den Sozialismus, an den wir schon früh herangeführt werden sollten.
Die Jungpioniere
Mit sechs Jahren trat ich den Jungpionieren bei. Ich bekam mein blaues Pionierhalstuch, trug ein weisses Hemd und ein blaues Käppi. Dazu bekamen wir den Pionierausweis, eine Art Mitgliedskarte, in der die Gebote der Jungpioniere standen.
Da meine Familie nicht sonderlich linientreu war, sondern in der Kirche, was in der DDR nicht gern gesehen wurde, fragte ich meinen Vater später, weshalb ich dennoch bei den Pionieren war: «Weil du Spass dabei hattest, all deine Freunde dort waren und wir dir das nicht verbieten wollten. Zudem hättest du die ideologischen Gründe, die dagegensprachen, damals wohl kaum verstanden», gab er mir als Antwort. Dazu muss man wissen, dass fast alle Kinder in der DDR bei den Pionieren waren. Einige Quellen sprechen von 98 Prozent.
Die Pionierorganisation war die politische Massenorganisation für Kinder in der DDR. Sie sollte uns im Sinne des sozialistischen Staates erziehen, auch mit diversen Ritualen und besonderen Anlässen, an denen wir unser blaues Pionierhalstuch trugen. Jeden Morgen riefen wir der Lehrerin zum Unterrichtsbeginn den Pioniergruss entgegen: «Seid bereit, immer bereit!».
Wie konkret uns diese Mitgliedschaft geprägt hat, lässt sich heute nur schwer sagen. All die Aktivitäten, die Spiele und der Spass waren wichtig, den wir unter anderem bei den Pioniernachmittagen mit unseren Freunden hatten. Die Konformität und Ideologie, die dahinterstanden, realisierten wir noch nicht.
Ein verfänglicher Brief
Als meine Schwester etwa zehn Jahre alt war, schauten wir uns in unseren Sommerferien den ersten Otto-Film an. Von dem war sie so begeistert, dass sie Otto Walkes einen Brief schrieb, um ihn nach Aufklebern zu fragen, die in dem Film vorkamen.
Wenn du das schreibst, landen wir im Gefängnis.
Zeile für Zeile erzählte sie darin auch von ihrer Kindheit in der DDR, wie es sich so lebt in diesem Staat und dass es gar nicht so einfach ist, in andere Länder zu reisen. De facto war für einen normalen DDR-Bürger die Welt abgesehen von einigen Ostblockstaaten verschlossen.
Nun brauchte sie nur noch eine Briefmarke, um den Brief abzuschicken und fragte dafür unsere Mutter. Als die einen kurzen Blick auf die Blätter warf, blieb ihr die Luft weg. Daraufhin meinte sie: «Wenn du das schreibst, landen wir Eltern im Gefängnis.» Da wurde meiner Schwester zum ersten Mal klar, dass es in diesem Land offenbar gefährlich ist, zu sagen und zu tun, was man möchte.
Das prägendste Ereignis war für meine ältere Schwester damals jedoch, als sie konfirmiert werden sollte. Da sie in einer christlichen Familie aufgewachsen ist, war für sie diese Entscheidung klar. Die Schule und ihre Lehrerin jedoch wollten, dass sie die Jugendweihe machte, das staatliche Pendant zur Konfirmation. Nachdem gutes Zureden nichts genützt hatte, wurde der Druck erhöht.
Zuerst gab es Hausbesuche, dann erhielt sie schlechtere Noten, schliesslich wurde ihr eine Auszeichnung verwehrt, die sie hätte bekommen sollen. «Es war eine Art Mobbing durch die Schule. Das jedoch bestärkte mich nur darin, das System DDR zu hinterfragen», erzählt sie mir. Als all das passierte, war sie knapp 14 Jahre alt, die DDR existierte nur noch wenige Monate. «Die Menschen lebten in einer Gesellschaft, in der die Luft zum Atmen knapp wurde». So beschreibt es die Historikerin Tanja Bürgel.
Die Luft zum Atmen wurde knapp.
Die DDR-Bürger hatten genug. Sie wollten raus, wollten reisen ohne Einschränkungen, sie demonstrierten für eine demokratische Neuordnung, das Ende der SED-Herrschaft und der Stasi. Dies ging als friedliche Revolution in die Geschichte ein. Damals sprach noch niemand von Wiedervereinigung.
Der Mauerfall und ein lila Hubba Bubba-Kaugummi
Dass einmal der Tag kommen sollte, an dem die Mauer fiel, war für meine Eltern wie für alle unvorstellbar. Und plötzlich standen wir da in West-Berlin, im November 89. «Ist dir das bewusst? Wir sind das erste Mal im Westen!», sagte mein Vater damals zu meiner Mutter.
Meine Erinnerungen an diese Reise reduzieren sich auf Folgendes: Bunte Reklame, wir treffen auf der Strasse zufällig Roberto Blanco. Damals war gefühlt jede und jeder in Berlin. Und: Mein lila Heidelbeer-Hubba-Bubba-Kaugummi. So schmeckte der Westen.
Bald aber hinterliess die neue Freiheit auch einen bitteren Beigeschmack. Unsicherheit ging um. Unsere Lehrer wussten auf einmal nicht mehr, was sie uns in Geschichte erzählen sollten. Einige ihrer Kollegen und Kolleginnen waren von einem auf den anderen Tag nicht mehr da. Ab in den Westen. Auch die Stühle mancher Schulfreunde blieben plötzlich leer.
Wiederum kamen Kinder aus Westdeutschland neu in unsere Klasse, deren Väter die Leitung eines Ostbetriebs übernommen hatten und deren Mütter Hausfrauen waren. Hausfrau? Sowas kannte ich nicht. Meine Mutter war wie die anderen in der DDR berufstätig. Sie hat mir das Modell einer selbständigen, unabhängigen Frau vorgelebt. Für mich kam selbst nie infrage, den Beruf aufzugeben, wenn ich mal Kinder habe.
Die Folgen der Umbrüche
In der DDR aufgewachsen zu sein, die Wende erlebt zu haben – das hat offenbar vor allem die jungen Frauen widerstandsfähiger gemacht. Das hat die Historikerin Tanja Bürgel in ihren Interviews mit über 100 Wendekindern festgestellt.
Weil die schon in früher Jugend mit grossen Herausforderungen konfrontiert gewesen seien, verfügten sie über eine hohe «Resilienz», die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Mir persönlich ist dieser Begriff der «Resilienz» auch schon oft begegnet. Wohl eines der positiven Dinge, die die DDR hinterlassen hat.
Er ist regelrecht durchs Leben gestolpert.
Aber natürlich gab es auch die negativen Folgen. Viele wurden arbeitslos, verloren den Boden unter den Füssen. So wie ein Bekannter meiner Schwester. Auch er ein Wendekind. «Er ist regelrecht durchs Leben gestolpert, hat keine Ausbildung abgeschlossen und irgendwann auch Probleme mit Drogen bekommen.»
Wenn ich mich in meinem früheren Freundeskreis oder bei Studienkolleginnen umschaue, dann fällt auf: Die meisten sind weggegangen. Sie haben der ehemaligen DDR den Rücken gekehrt. «Ich wollte mal was Neues kennenlernen, auswandern wollte ich nie», sagte mir eine gleichaltrige Freundin, die 2011 nach Irland reiste.
Sie blieb acht Jahre dort. Auch meine Schwester ist weg. Sie wohnt seit vielen Jahren nun schon in Norwegen. Ich in der Schweiz. Wir haben dort und hier unsere neue Heimat gefunden – Wendekinder bleiben wir.