Es ist Tag 17 der öffentlichen Blossstellung von Amber Heard und Johnny Depp. Der Verleumdungsprozess findet in Fairfax im US-Bundesstaat Virginia statt. Per Livestream kann die ganze Welt zuschauen. «Wer war das wirkliche Monster in dieser Beziehung?», fragt Johnny Depps Anwältin. Sie richtet die Frage an Amber Heard.
Es wird so getan, als sei es sexy, von Johnny Depp vergewaltigt zu werden.
Für die Kommentarschreiber im Livestream, für unzählige TikTok-Autoren und für die Hashtag-Kriegerinnen auf Twitter ist der Fall klar: Amber Heard ist das Monster. «Wie sie mit dem Kopf nickt, ist ekelerregend», schreibt jemand während des Livestreams auf YouTube. Sie töne wie der Exorzist, schreibt ein anderer.
Amber Heard wird verunglimpft
Die Kanadierin Farrah Khan berät Opfer von sexueller Gewalt. Sie verfolgt die öffentliche Verteufelung von Amber Heard seit mehreren Jahren. Sie sagt: «Es gibt TikToks, die Heards Zeugenaussagen verwenden und sich über sie lustig machen.» Was Amber Heard sage, sei erregend, heisse es in diesen TikToks.
«Es wird so getan, als sei es sexy, von Johnny Depp vergewaltigt zu werden», so Khan. In den sozialen Medien und auch in vielen Medienberichten werde das mögliche Opfer als Täterin abgestempelt. Problematisch sei vor allem die Vehemenz, mit der Amber Heard verunglimpft werde.
Bei Vorwürfen von sexualisierter oder häuslicher Gewalt werden die Opfer-Täter-Verhältnisse sehr schnell umgedreht.
Und auch falls Heard in der Beziehung mit Depp ebenfalls Formen der Gewalt ausgeübt haben sollte, werde sie von der Öffentlichkeit härter angegangen als das jemals mit einem Mann geschehen würde, beobachtet die Kanadierin Farrah Khan.
Auch für den «Blick» ist Heard die Böse
Das sieht auch Christa Binswanger so. Sie ist Dozentin für Gender und Diversity an der HSG in St. Gallen. «Bei Vorwürfen von sexualisierter oder häuslicher Gewalt werden die Opfer-Täter-Verhältnisse sehr schnell umgedreht.»
Und das geschieht nicht nur in den sozialen Medien. «Log Amber Heard vor Gericht eiskalt?», titelte der «Blick» Anfang Mai. Und jetzt doppelte er nach: «Amber Heard hat im Prozess gegen Johnny Depp gelogen».
Sowohl Khan als auch Binswanger befürchten, dass der Promi-Prozess bei Opfern häuslicher Gewalt grossen Schaden anrichten könnte. Khan spricht vom sogenannten «chilling effect» – mögliche Opfer würden kaltgestellt.
Die öffentliche Wahrnehmung der Verhandlung werde viele Opfer und Überlebende von sexueller und häuslicher Gewalt verstummen lassen, so die Befürchtung.
Häusliche Gewalt wird verulkt
Der Fall Heard/Depp zeige zudem, dass häusliche Gewalt in der Öffentlichkeit immer noch nicht ernst genommen werde, sagt Khan. «Wir leben in einer Gesellschaft, in der häusliche Gewalt in Memes verulkt wird» – und in welcher Heerscharen von Onlinenutzenden die Ehre von Johnny Depp verteidigen möchten.
«Solche Parteiergreifungen wie für Depp – der Star soll quasi vor ungerechtfertigten Anschuldigungen geschützt werden – beobachten wir schon seit den 1970er-Jahren», sagt Binswanger. Damals sei die sexualisierte Gewalt erstmals in die feministische Kritik geraten.
Gleichberechtigung und ein würdiger Umgang mit möglichen Opfern von häuslicher Gewalt: Für Farrah Khan und Christa Binswanger sind das Ideale, die im Prozess zwischen Amber Heard und Johnny Depp schmerzlichst vermisst werden.