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«Schuld suchte man immer schon bei Randgruppen»
Aus Echo der Zeit vom 18.05.2020. Bild: Heiko Grandel
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 41 Sekunden.

Seuchen und Stigmatisierung «Die Schuld wird stets Randgruppen oder Fremden gegeben»

Die Zahl der registrierten Fälle von rassistischen Übergriffen auf Menschen mit chinesischer oder asiatischer Abstammung ist in der EU sprunghaft angestiegen. In China sind es Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die unter Anfeindungen leiden. In anderen Regionen standen Europäer unter Generalverdacht, das Virus ins Land zu bringen.

Dass wir Infektionskrankheiten mit bestimmten Bevölkerungsgruppen in Verbindung bringen, ist laut dem Medizinhistoriker Heiner Fangerau nicht neu.

Heiner Fangerau

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Heiner Fangerau ist Medizinhistoriker und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (D). Er untersucht die Wechselwirkungen von Medizin und Gesellschaft.

SRF News: Seit wann suchen wir die Schuldigen von Infektionskrankheiten in bestimmten Bevölkerungsgruppen?

Heiner Fangerau: Man kann das so weit zurückverfolgen, wie es schriftliche Überlieferungen von Seuchen gibt. Schon immer ist nach dem Ursprung einer Seuche gesucht und dabei der Blick auf «die anderen» gerichtet worden – auf jene, die von aussen kommen. Prominentestes Beispiel sind Judenpogrome während der Grossen Pest im 14. Jahrhundert, die mit der Begründung verübt wurden, Juden hätten Brunnen verseucht.

Wenn man nicht selber der Sünder sein will, dann muss man die Schuld auf jemand anderen schieben.

Wie passt das mit der Idee zusammen, dass die Pest eine Strafe Gottes sei?

Das Erklärungsmodell mit Gott ging davon aus, dass dieser die Sündigen mit der Seuche für ihr sündiges Leben bestraft. Wenn die Menschen aber selber nicht die Sünder sein wollten, dann mussten sie die Schuld auf andere schieben. Das waren meist Randgruppen, die sündiger waren als man selbst.

Bringt es dem Menschen also eine Erleichterung, wenn er einer gewissen Bevölkerungsgruppe die Schuld geben kann?

Ja. Es erleichtert das eigene Gewissen. Zudem schafft es einen Sinn, wo zunächst kein Sinn zu entdecken ist.

Bringen solche Stigmata der Bevölkerung einen Vorteil?

So traurig es ist, bringt es eine Beruhigung und eine Sinngebung an jene Gruppe, die stigmatisiert. Man könnte nun annehmen, dass es auch einen Schutz mit sich bringt, weil man sich vor bestimmten Gruppen von Leuten fern hält. Das ist aber ein Kurzschluss: Man hält sich von diesen Kreisen fern, weil man ihnen etwas zuschreibt, das gar nicht stimmt.

Entweder werden Randgruppen stigmatisiert oder Fremde.

Laufen solche Stigmatisierungen immer nach einem ähnlichen Muster ab?

Es handelt sich entweder um gesellschaftliche Randgruppen und Minderheiten, die stigmatisiert werden, oder um das Fremde, das Entfernte, das möglichst weit weg ist.

Kann es deshalb für die gleiche Krankheit verschiedene «Schuldige» geben?

So ist es. Im Diskurs der Mehrheit wird rasch jene Gruppe gefunden, die scheinbar am weitesten vom eigenen Leben und der eigenen Kultur entfernt ist. Für uns Europäer sind das oft China oder Afrika. In China sind es dagegen Afrikaner oder Europäer.

Stigmata können sehr lange haften bleiben.

Wie lange bleiben solche Stigmata bestehen?

Das ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Ein Stigma kann aber sehr lange haften bleiben. Ein Beispiel: Es gab in der Vergangenheit unzählige Versuche, psychiatrische Erkrankungen zu entstigmatisieren und den Menschen deutlich zu machen, dass der oder die Betroffene nichts dafür kann. Alle diese Versuche laufen ins Leere.

Heisst das in Bezug auf die Seuche, dass ein Stigma länger haften bleiben kann als die Seuche selber?

Das ist sehr gut möglich. Als Folge davon geht die Ausgrenzung der Betreffenden weiter. Gewisse Bevölkerungsgruppen werden an die Seite gedrängt, und es kann sozialer Unfriede daraus entstehen.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit vom 18.5.2020, 18.00 Uhr ; 

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