Den Tag startet die Klasse 5b der Rudolf-Steiner-Schule Basel mit einem Morgenkreis. Die Schülerinnen und Schüler beginnen so mit Bewegung und Singen – und mit einem «Morgenspruch». Dieses Gedicht von Rudolf Steiner wiederholt die Klasse jeden Morgen.
Der Unterricht an einer Steiner-Schule ist anders als an einer Staatsschule. Das zeigt sich nicht nur am Morgenkreis. Eine Klasse bleibt auch für die gesamte Schulzeit zusammen und bildet so neun Jahre – oder noch länger – eine Gemeinschaft. Und das unabhängig davon, wie gut oder schlecht ein Kind in der Schule ist, Leistungsstufen gibt es nicht.
Wir wollen die Kinder ganz fest stärken und nicht, dass sie schon ausgelaugt werden.
Diese Gemeinschaft sei eine grosse Stärke der Steiner-Schule, findet Lehrerin Andrea Kaufmann. Sie unterrichtet die Klasse 5b. Ihr ist es wichtig, nicht nur den Kopf – also den Intellekt – zu fördern, sondern auch das Herz.
Darum würden auch viele Schulstunden in die musischen Fächer investiert, sagt Kaufmann. Wichtig sind Werken, Zeichnen, Musik und Eurythmie – Fächer, die die Sinne fördern sollen.
Die Lehrerin ist überzeugt, dass Kinder sich nur entwickeln könnten, wenn sie sich wohlfühlten. «Wir wollen die Kinder ganz fest stärken und nicht, dass sie schon ausgelaugt werden.» Die Schule verzichtet auch auf elektronische Hilfsmittel wie Tablets. Die Sinne würden über elektronische Geräte nicht angesprochen, findet Kaufmann.
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Bild 1 von 3. Die erste Steiner-Schule der Schweiz. 1926 wurde die Schule an der Lindenhofstrasse im Basler Gellert-Quartier eröffnet. Bildquelle: ZVG/Rudolf-Steiner-Schulen.
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Bild 2 von 3. Mädchen und Jungen wurden von Anfang an zusammen unterrichtet. Bildquelle: ZVG/Rudolf-Steiner-Schulen.
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Bild 3 von 3. Auch gab es keine Noten und keine Klassen, die nach Leistung aufgeteilt waren. Bildquelle: ZVG/Rudolf-Steiner-Schulen.
Dass die Sinne im Vordergrund stehen, war der Wunsch von Rudolf Steiner. Er starb 1925 in Dornach SO. Ein Jahr nach seinem Tod wurde in der Schweiz die erste Steiner-Schule in Basel eröffnet. Die Jungen und Mädchen wurden zusammen unterrichtet, und Noten gab es keine. Beides war zu dieser Zeit sehr ungewöhnlich.
Finanziell ist es eine grosse Herausforderung, weil wir ja keine Eliteschule sein wollen.
Nach 1926 entstanden in der ganzen Schweiz Steiner-Schulen. Zu den Blütezeiten gab es 39 Schulen. Heute sind es schweizweit noch 28. Die höchsten Schülerzahlen hatten die Steiner-Schulen im Schuljahr 2012/2013 mit über 6300 Schulkindern. Heute sind es noch etwa 5200, also rund ein Fünftel weniger.
Das habe verschiedene Gründe, sagt Vanessa Pohl. Sie ist Koordinatorin bei den Rudolf-Steiner-Schulen Schweiz. «Finanziell ist es eine grosse Herausforderung, weil wir ja keine Eliteschule sein wollen», sagt Pohl.
Die Schulen erhalten keine staatlichen Zuschüsse und finanzieren sich über die Schulgelder. Diese hängen bei vielen Steiner-Schulen vom Einkommen der Eltern ab. So können sich auch Familien mit tiefem Einkommen die Schule leisten, weil sie weniger bezahlen müssen.
Hinzu komme, dass in den letzten Jahre viele neue, andere Privatschulen gegründet wurden und so der Wettbewerb unter den Privatschulen stark gestiegen sei, so Pohl.
Auch müssten sich die Rudolf-Steiner-Schulen den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen. Vanessa Pohl gibt sich selbstkritisch: «Die Steiner-Schule ist nicht überholt, aber sie muss sich vorwärts bewegen.»
Die Kinder der Klasse 5b jedenfalls finden die Steiner-Schule toll. Schülerin Linn schätzt die Freundinnen und Freunde, die sie in der Schule gefunden hat. Dass es keine Noten gibt, komme bei den Kindern gut an, auch weil es so weniger Druck gebe, sagt Marie.
Kritische Töne hingegen hört man zur Eurythmie, einer Bewegungsschulung. Die 5b hat das Fach zum Abschluss des Morgens. Damit endet der Schultag mit einer Steiner-Eigenheit, so wie er mit dem Morgenkreis begonnen hat.