Gegen den Tessiner Mindestlohn gewehrt hatte sich insbesondere die produzierende Industrie. Firmen würden abwandern und Hunderte Stellen abgebaut, so die Befürchtungen. Nach einem Jahr zeigt sich: Die Bedenken waren praktisch unbegründet.
10'000 Angestellte verdienen mehr
Von den 19 Franken pro Stunde Mindestlohn haben gut 10'000 Personen profitiert. Das sind ungefähr sechs Prozent aller Angestellten im Kanton. Zwei Drittel davon sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien – die Mehrheit Frauen. Sie führen oft einfache, repetitive Tätigkeiten aus und wurden entsprechend schlecht bezahlt. Statt Stundenlöhne um 15 bis 17 Franken erhalten sie nun 19 Franken und verdienen damit ungefähr 3300 Franken brutto monatlich.
Die pessimistischen Szenarien von Stellenverlagerungen sind nicht eingetroffen. Dennoch warnen einzelne Arbeitgeber vor den Folgen des Mindestlohns. Der Kanton sei weniger wettbewerbsfähig, sagt der Leiter des Produktionsbetriebs Cebi Electronics, Domenico Cravioglio. Cebi Electronics stellt im Tessiner Ort Stabio Kleinmotoren für die meisten Autoproduktionen Europas her.
Weil die Arbeit teurer wird, erhöht das die Kosten für die Produkte um bis zu 10 Prozent.
«Weil die Arbeit teurer wird, erhöht das die Kosten für die Produkte um bis zu 10 Prozent», sagt Cravioglio. Gut die Hälfte der rund 400 Angestellten verdienen jetzt mehr. Es sind fast alle Grenzgängerinnen. Diese Arbeitsplätze sieht der Geschäftsführer in Gefahr. Denn zum Mindestlohn kämen steigende Energiekosten, der starke Franken und höhere Rohstoffpreise, so Domenico Cravioglio.
Lohndumping durch Mindestlohn verhindert?
Schlecht bezahlte Jobs, die vor allem von Grenzgängerinnen und Grenzgängern besetzt sind, drücken auf die Löhne im Tessin. Angestellte im Tessin verdienen im Mittel mit gut 5500 Franken deutlich weniger als anderswo in der Schweiz. Die Politik und das Stimmvolk wollten mit dem Mindestlohn den Druck auf die Löhne der Einwohnerinnen und Einwohner wegnehmen. Dies sei mit den 19 Franken pro Stunde nicht gelungen, denn auch dieser Mindestlohn erlaube Tessinerinnen und Tessinern kein anständiges Leben, sagt der Unia-Gewerkschafter Matteo Poretti.
Gewerkschaften und linke Parteien haben bereits eine Initiative lanciert, um den Mindestlohn auf 21 Franken 50 Rappen anzuheben. Firmenverlagerungen und Arbeitsplatzverluste, wie die Wirtschaft vor der Einführung des 19-Franken-Mindestlohns prognostiziert habe, hätten nicht stattgefunden, sagt Matteo Poretti. Umgekehrt sieht er es auch nicht als erwiesen an, dass Arbeiten im Tessin für die Grenzgängerinnen nun attraktiver werde.
Kanton Tessin mit dem tiefsten Mindestlohn
In die gleiche Kerbe schlägt auch Stefano Rizzi, der Leiter des Tessiner Wirtschaftsamts: «Der Mindestlohn hat weder zu Produktionsverlagerungen noch zu einem Stellenabbau geführt.»
Rizzi beobachtet sogar, dass neue Arbeitsplätze im Kanton entstehen. Dies, obwohl die weltweite Wirtschaftslage nicht einfach sei. Die Folgen des Mindestlohns analysiert der Kanton im kommenden Jahr.