Sechs Jahre alt war Eric, als er 1970 als erstes Kind in der Schweiz eine Spenderniere erhielt. Ein Eingriff, der damals ein noch ungleich grösseres Risiko darstellte als heute. Die Operation glückte. Das Kinderspital Zürich kann das 50-Jahr-Jubiläum der ersten Nierentransplantation feiern im Wissen darum, dass der allererste Patient immer noch sehr gut mit der Spenderniere lebt.
An seine Zeit im Kinderspital könne er sich nicht gut erinnern, sagt der heute 56-jährige Genfer, der nicht mit vollem Namen in Erscheinung treten möchte. Dennoch erzählt er seine Geschichte dem «Regionaljournal Zürich Schaffhausen» von Radio SRF: «Ich weiss noch, dass sich alle gut um mich gekümmert haben.» Alle in Zürich hätten Französisch mit ihm gesprochen: «Deshalb spreche ich heute so schlecht Deutsch», schmunzelt er.
Nicht einmal an die Hämodialyse, die Blutwäsche, hat er schlechte Erinnerungen. Dreimal pro Woche musste er sie über sich ergehen lassen und das über Monate. «Es war nicht schwierig», sagt er lediglich dazu. «Man konnte dabei schlafen.»
Durst, erinnert er sich dann doch, sei allerdings sein ständiger Begleiter gewesen. «Ich durfte nur bis zu einem halben Liter Wasser trinken pro Tag.» Mehr schafften seine Nieren nicht, aber es war natürlich zu wenig. «Ich war deshalb ständig auf der Suche nach Wasser», erzählt er. Den Wasserhahn in seinem Zimmer habe man deswegen stillgelegt. Und auch das salzlose Essen ist ihm im Gedächtnis geblieben. «Das war nicht sehr gut.»
Man hat mir alles erklärt, aber ich habe nicht viel verstanden.
Er wisse auch noch, dass man ihm oft erklärt habe, woran er leide, meint aber lachend: «Ich habe keine Erinnerung daran, dass ich etwas verstanden hätte.» Am Tag der Operation habe er dann allerdings nicht operiert werden wollen: «Da hatte ich wohl ein wenig Angst.» Vielleicht spürte er, wie dringlich die Operation damals war. Dass er kaum einen Tag länger überlebt hätte.
«Die Operation war eine Erlösung», bestätigt sein damaliger Arzt, Ernst Leumann. Er war der erste Oberarzt in der Nephrologie am Kinderspital und der einzige weit und breit, der sich mit Dialyse und Nierentransplantationen bei Kindern auskannte. Er war mit den neusten Verfahren von seinem Aufenthalt in den USA vertraut, ihm wurde die Langzeitdialyse von Eric überantwortet.
Eine äusserst heikle Mission, immer wieder kam es zu Komplikationen mit den Zugängen. Die zarten Gefässe des Buben machten nicht mehr mit. «Lange hätte die Dialyse nicht mehr aufrechterhalten werden können», erinnert sich Leumann.
Wir mussten ihn richtig aufpäppeln für die Transplantation.
Über Monate hielten sie den kleinen Patienten am Leben und sorgten dafür, dass er an Gewicht zunahm. Denn als er von Genf nach Zürich zur Dialyse kam, stand es bereits schlecht um ihn. «Er war in einem sehr, sehr schlechten Ernährungszustand», erzählt Leumann. «Wir mussten ihn richtig aufpäppeln, damit wir ihn später transplantieren konnten.» Ernst Leumann setzte sich energisch für eine Transplantation ein und willigte nur in die Langzeitdialyse ein mit der Aussicht, dass Eric auch transplantiert würde.
Die Operation war in Europa bahnbrechend, galt doch in der Schweiz noch die Regel, dass nur Patienten zwischen 15 und 50 Jahren eine Dialyse und eine Nierentransplantation erhalten sollen. «Mit einem sechsjährigen Bub waren wir weit darunter, deshalb wollte ich unbedingt das Einverständnis des damaligen Chefarztes, Felix Largiadèr.» Dieser habe sofort eingewilligt.
In der Schweiz wurden damals nur Patienten zwischen 15 und 50 Jahren transplantiert.
Schliesslich kam der Tag der Operation. Die Spenderniere stammte von einem verstorbenen 18-Jährigen. Er sei sehr aufgeregt und erleichtert gewesen, erzählt Leumann. Ein ganzes Jahr sei er gewissermassen «angebunden» gewesen, habe auf Ferien verzichtet. Und dennoch: «Es war eine solche Befriedigung, dass wir das machen konnten, ich nahm das deshalb gerne in Kauf.»
Eine unglaubliche Geschichte
Die Operation war ein Erfolg, eine Dialyse war danach nicht mehr nötig. «Wir hatten wahnsinnig Glück, dass die Niere gleich funktionierte», erklärt Leumann. Dass sie auch heute noch ganz normal arbeitet, hätte er niemals erwartet. Seines Wissens habe es das noch nirgends gegeben. «Wir hatten den Eltern erklärt, dass es realistisch gesehen für ein paar Jahre gut gehen würde.» Für die Zeit danach hofften sie alle auf den medizinischen Fortschritt.
Dass die Niere immer noch funktioniert ist ausserordentlich.
Die Geschichte habe auch für sie etwas Unglaubliches, sagt die heutige leitende Ärztin der Nephrologie am Kinderspital Zürich, Giuseppina Spartà. «Auch in der heutigen Zeit ist ein Organ-Überleben von 50 Jahren keine Selbstverständlichkeit. Erst recht nicht, wenn man an die Bedingungen der Transplantation vor 50 Jahren denkt.»
Vor 50 Jahren war eine Nierentransplantation, vor allem bei Kindern, noch eine experimentelle Angelegenheit. Unterdessen erhielten über 200 Kinder eine neue Niere am Kinderspital. In den letzten Jahrzehnten habe man viel dazugelernt, sagt Spartà. «Mittlerweile gibt es Protokolle, wie so etwas abläuft. Es ist genau definiert, wer was macht; vor und nach der Transplantation.» Eine grosse Herausforderung bleibt jedoch das Alter der Patienten: Sie werden immer jünger.
Ein Kind muss mindestens zehn Kilo wiegen, sonst hat eine Erwachsenenniere keinen Platz.
«Es ist alles viel kleiner, die Anatomie ist eine Herausforderung für den Chirurgen.» Ein Kind muss deshalb zum Beispiel ein Mindestgewicht von zehn Kilo aufweisen. Sonst gibt es im Körper schlicht keinen Platz für die Niere eines Erwachsenen.
Ein grosses Problem ist zudem der Mangel an Spenderorganen. Zwar werden Kinder gegenüber Erwachsenen bevorzugt, im Schnitt beträgt die Wartezeit nur noch vier Monate, sobald ein Kind auf die Transplantationsliste gesetzt wird. Im schlimmsten Fall kann es aber auch zwei Jahre dauern.
«In dieser Zeit müssen sie an der Dialyse bleiben und können sich weniger gut entwickeln als transplantierte Kinder», erklärt Spartà. «Sie werden physisch und psychisch ausgebremst.»
Wegen der Abhängigkeit von der Dialyse ist ein unbeschwertes Aufwachsen kaum möglich, die Krankheit ist immer präsent. Eine kleine, aber wichtige Auszeit, in der die Kinder trotz Einschränkungen viele Freiheiten erfahren können, sei das Dialyselager des Kinderspitals, das es nunmehr seit fast 40 Jahren gibt.
Das Ziel für die Zukunft sei es, dass man die Grunderkrankung besser behandeln könnte, damit man möglichst spät, oder gar nicht transplantieren müsse, so Spartà. Unterdessen gebe es auch die Vorstellung, dass Organe aus Stammzellen gezüchtet werden könnten. Obwohl es bis zur Umsetzung noch Jahrzehnte dauern könnte, findet Giuseppina Spartà die Vision ermutigend: «Vielleicht wird es in 50 Jahren zur Selbstverständlichkeit. So wie heute die Transplantation zur Selbstverständlichkeit wurde.»
Warten auf den Termin
Bis es so weit ist, werden noch viele Kinder auf eine fremde Niere angewiesen sein. Zurzeit warten am Kinderspital mehrere Patienten auf einen Termin zur Transplantation. Unter ihnen auch ein elfjähriger Bub, der mit einem angeborenen Nierenleiden zur Welt kam. Er wird eine Niere von seiner Mutter erhalten. Das ist nicht ungewöhnlich. 50 bis 60 Prozent der Kinder erhalten heute eine Niere von einem lebenden Spender. Auch seine Familie ist unter Wahrung der Anonymität bereit, über ihre Situation zu sprechen.
Unser grösster Wunsch: Dass unser Sohn ein normales Leben hat.
Für sie sei von Anfang an klar gewesen, dass sie sofort eine Niere spenden würden, wenn sie dafür infrage kämen, erklären die Eltern. «Der Eingriff ist planbar, wir können uns besser vorbereiten und wir müssen nicht warten, bis jemand anderes spendet.» Sicherheit gebe auch die Betreuung im Kinderspital. Die Unterstützung sei riesig, sagt der Vater. «Das Team der Nierenabteilung ist wie eine Familie geworden.»
Bald steht die Operation an. Der grösste Wunsch der Eltern: Dass ihr Sohn danach ein normales Leben führen kann, ohne Einschränkungen, ohne ständige Sorge. Und der Sohn? Er freue sich darauf, dass er dann einmal alles essen könne, was er wolle, lässt der Vater ausrichten. Burger, Pommes – am liebsten einmal quer durch die Karte.
Ein neues Leben
Für den ersten, nierentransplantierten Patienten am Kinderspital ging seinerzeit alles gut aus. Und auch heute, 50 Jahre nach der Operation, fühle er sich «sehr gut», sagt Eric. Alle Kontrollen der Nieren würden gut verlaufen.
In den ganzen 50 Jahren habe er nie wirklich ein Problem gehabt, er habe ein normales Leben führen können und nichts versäumt. Für ihn habe die Operation damals bedeutet, dass er endlich das Spital verlassen dürfe. Welch ausserordentliches Geschenk er erhalten hatte, realisierte er erst viel später.