Im Zentrum des Falls steht Marcel Jann: Geboren 1953, aufgewachsen in Niederurnen im Kanton Glarus. Während elf Jahren wohnte er mit seinen Eltern neben einer Eternitfabrik und einem Bahnhof, an dem asbesthaltige Produkte verladen wurden. Am 30. Oktober 2006 starb Marcel Jann – 18 Monate, nachdem bei ihm asbestinduzierter Brustfellkrebs diagnostiziert worden war.
Janns Witwe und sein Sohn fordern deshalb 110'000 Franken Genugtuung. Der Fall ging durch alle Instanzen – bis zum Bundesgericht, das 2019 urteilte, er sei verjährt. 2020 hat das Schweizer Parlament die Verjährungsfristen zwar auf 20 Jahre erhöht. Doch das ist gemäss Bundesgericht für diesen Fall nicht von Bedeutung, weil er sich früher ereignete.
Die Familie Jann zog den Fall daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiter. Dieser hat die Schweiz nun wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren verurteilt. Es verweist darauf, dass asbestverursachte Krankheiten bis zu 45 Jahre nach dem Kontakt mit dem Material auftreten können – ohne, dass Betroffene vorher wissen können, dass sie erkranken werden. Diese Tatsache müsse bei der Festlegung der Verjährungsfrist berücksichtigt werden.
«Das Urteil hat Signalwirkung»
«Die Familie Jann freut sich über dieses Urteil», sagt Martin Hablützel, Fachanwalt für Haftpflicht- und Versicherungsrecht und Vertreter der Familie. Ihnen sei Gerechtigkeit widerfahren. Das Bundesgericht müsse nun nochmals über die Bücher: «In einem Revisionsverfahren wird jetzt entschieden werden müssen, dass die Ansprüche der Familie Jann nicht verjährt sind. Somit geht die Sache wieder vor das Kantonsgericht in Glarus – und wir fangen wieder auf Feld eins an.»
Alle Menschen, die künftig eine Asbesterkrankung erleiden, können sich auf dieses Urteil berufen.
Das Urteil habe auch über den Fall Jann hinaus Signalwirkung, sagt Hablützel: «Alle Menschen, die künftig eine Asbesterkrankung erleiden, können sich darauf berufen.» Ihnen könne die Verjährung nicht mehr entgegengehalten werden, «sie werden ihre Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche vor den Gerichten geltend machen können».
Bundesgericht in schwieriger Lage
Was heisst das für die schweizerische Verjährungspraxis? Corinne Widmer Lüchinger ist Professorin für Privatrecht an der Universität Basel und beschäftigt sich seit Jahren mit ähnlich gelagerten Fällen. Sie bestätigt: Die 2020 in Kraft getretene Verlängerung der Verjährungsfrist auf 20 Jahre nütze nichts bei Erkrankungen, die auch nach dieser Frist noch ausbrechen können, ohne dass Betroffene dies vorher erkennen können.
Dieses Problem sei schon bei der Gesetzesrevision erkannt worden, trotzdem habe das Parlament an der Bestimmung festgehalten. Das Bundesgericht befinde sich nun in einer unangenehmen Lage: «Es muss sich für künftige Fälle entscheiden, ob es den Willen des Parlaments oder die Menschenrechtskonvention höher gewichtet.» Noch weiter geht Martin Hablützel. Er sagt: «Das schweizerische Verjährungsrecht wird durch den Entscheid aus den Angeln gehoben.»
Allerdings: Das Urteil des EGMR ist noch nicht rechtskräftig. Die Schweiz hat nun drei Monate lang Zeit, um Beschwerde dagegen einzulegen. Ob sie das tun wird, ist gemäss dem zuständigen Bundesamt für Justiz (BJ) noch nicht klar. Es schreibt auf Anfrage: «Das BJ wird das Urteil analysieren und nach Konsultation der betroffenen Behörden prüfen, ob die Schweiz den Fall an die Grosse Kammer des EGMR weiterziehen soll.»