Es gebe ihres Wissens nach in der Westschweiz nicht mehr Asylsuchende mit psychischen Problemen als anderswo, sagt Psychiaterin Saskia von Overbeck Ottino: «Es handelt sich um Vorfälle, die über mehrere Jahre verteilt geschahen und die stark mediatisiert wurden.»
Von Overbeck Ottino identifiziert vor allem eine Besonderheit in der Westschweiz. Vor einem Jahr demonstrierten junge Afghanen in Genf, nach dem Suizid einer ihrer Landsleute. Deshalb erhielt dieses Thema mediale Aufmerksamkeit, verstärkt noch, als kaum einen Monat später auch ein junger Nigerianer Suizid beging.
«Die Berichterstattung erweckte zuweilen den Eindruck, dass so etwas nur in Genf passieren kann», sagt die Psychiaterin rückblickend. Dabei gehöre die Sorge darum, dass sich junge Menschen etwas antun könnten, zum Alltag im Asylbereich. «Das betrifft die unbegleiteten Minderjährigen, aber ganz besonders auch die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren.»
Die jungen Erwachsenen hätten es besonders schwer, erläutert von Overbeck Ottino, die über 30 Jahre Erfahrung im Asylbereich hat. «Während unbegleitete Minderjährige in den meisten Kantonen besonders betreut werden, stehen junge Erwachsene vor grossen Herausforderungen und werden damit über weite Strecken sich selbst überlassen.»
Zug-Geiselnehmer war verwirrt
So wie das wohl beim 32-jährigen Geiselnehmer aus Iran der Fall war, der vor einer Woche 13 Personen in einem Regionalzug gefangen hielt. Aus den ersten Polizeiberichten geht hervor, dass dieser in den letzten Jahren mehrmals verschwunden war.
Ein besonderes Augenmerk im Schweizer Asylwesen gilt den unbegleiteten Minderjährigen. Von Overbeck Ottino kritisiert, dass sie sehr oft pünktlich zu ihrem 18. Geburtstag sich selbst überlassen würden.
Diese Kritik habe sie auch schon auf Kantonsebene angebracht – und auch beim Bundesamt für Gesundheit BAG habe sie die Kritik deponiert. Von Overbeck Ottino berät das BAG in einer Expertengruppe.
Dass solche Hinweise jedoch Wirkung zeigten, bezweifelt sie: «Es gibt sehr viele Widerstände. Sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene. Dies auch, weil es politisch wenig Fürsprache für Geflüchtete gibt. Aber Migranten haben auch Rechte. Zum Beispiel auf Unterstützung und auf gute medizinische Betreuung.»
Viele Asylsuchende mit psychischen Problemen
Manchmal komme es ihr vor, als ob sich das Asylsystem selbst sabotiere. Man spreche zwar Mittel, aber meist etwas zu knapp. So seien zum Beispiel im Kanton Genf viele Psychologen im Asylbereich nur befristet angestellt.
Aber instabile Menschen mit einem instabilen System zu umsorgen, sei nicht zielgerichtet. Und man wisse inzwischen doch, dass nicht weniger, sondern immer mehr Menschen kommen. Und man wisse auch, dass Asylsuchende immer psychologische Hilfe brauchten.
Studien gehen davon aus, dass 60 bis 80 Prozent der Asylsuchenden psychische Probleme haben. «Das ist in Fachkreisen anerkannt», sagt von Overbeck Ottino. Die Fluchtursachen seien meist schon traumatisch, dazu kämen die schwere Reise und der Verlust der Lebensgewohnheiten, des Umfeldes und der Kultur.
«Die Schweiz muss dieser Herausforderung besser begegnen», fordert sie. Das sei im Interesse der Asylsuchenden, aber auch im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes.