Das Coronavirus breitet sich in der Schweiz rasant aus, der Bundesrat hat seine Verhaltensempfehlungen für die Bevölkerung verschärft, ruft aber zur Ruhe auf. Marcel Salathé, Epidemiologe an der ETH Lausanne EPFL, ordnet die neuesten Ereignisse ein.
SRF: Das Bundesamt für Gesundheit sagt, die Schweiz stehe am Rande einer epidemischen Welle. Was kommt aus Ihrer Sicht auf die Schweiz zu?
Marcel Salathé: Das Konzept der Welle kennen wir in der Epidemiologie gut, darum sprechen wir auch von einer Grippewelle, wenn diese durch das Land zieht. Beim Coronavirus erwartet man nun auch eine Welle. Der Ansatz ist nun – das hat auch das BAG gesagt –, die Welle so tief wie möglich zu halten und so stark wie möglich hinauszuschieben. Das hat zwei Effekte: Wenn wir sie tief halten können, können wir das Gesundheitssystem entlasten und Zeit gewinnen – wertvolle Zeit, um Medikamente und einen Impfstoff zu entwickeln und zu testen.
Vom Stoppen dieser epidemischen Welle redet man also gar nicht mehr?
Davon kann man jetzt nicht mehr ausgehen. Das spiegelt sich in den Vorbereitungen der Länder. Diese gehen jetzt davon aus, dass die Welle kommt, und dass es nun darum geht, sie so stark wie möglich einzudämmen.
Vor zehn Tagen hatten wir den ersten Fall in der Schweiz, jetzt sind wir bei 210 bestätigten Ansteckungen. Trotzdem hört man in der Öffentlichkeit immer wieder: Warum die Hysterie? Beim Grippevirus reagiere man ganz anders. Das sei doch auch vergleichbar. Was sagen Sie diesen Kritikern?
Ich finde das grundsätzlich schon eine gute Frage. Aber man muss die Situation aus der Perspektive des Grippevirus betrachten: Es kommt im Winter von der Südhemisphäre in die Schweiz und trifft auf eine Bevölkerung, die eine gewisse Immunität hat. Leute hatten bereits eine Grippe, einige haben sich geimpft. Und deshalb ist ein immunologischer Widerstand da. Trotzdem infizieren sich jedes Jahr rund zehn Prozent der Leute mit der Grippe.
Es gilt nach wie vor: Gut die Hände waschen, mit den Händen nicht ins Gesicht fassen, und die Massnahmen vom ‹social distancing› befolgen.
Beim Coronavirus sieht es anders aus: Wir haben keinen Impfstoff und keinen spezifischen immunologischen Widerstand, weil noch niemand so eine neue Infektion gehabt hat. Deshalb ist es für dieses Virus viel einfacher, durch die Bevölkerung durchzugehen.
Wie viele Menschen in der Schweiz werden mit dem Coronavirus in Kontakt kommen?
Grundsätzlich ist das schwierig zu sagen. Bei der saisonalen Grippe gehen wir von rund zehn Prozent aus. Aber dort gibt es eben immunologischen Widerstand. Das ist nun nicht der Fall. Deshalb müssen wir nun schon worst case»-Szenarien berechnen, bei denen mehr Leute infiziert werden können. Epidemiologen reden teilweise von 20 bis zu 60 Prozent. Die Varianz ist da natürlich relativ gross.
Womit müssen die Spitäler nun rechnen?
Die Spitäler können auf die chinesische Situation und auf die italienische zurückgreifen: Da sieht man, dass rund fünf Prozent – je nachdem ein bisschen mehr – von den symptomischen Fällen schwer verlaufen können. Mit dem muss man planen. Ich muss aber wiederholen: Die 40, 50 Prozent sind «worst case», wenn man nichts machen würde. Deshalb ist es wichtig, dass man diese Massnahmen nun ernst nimmt.
Jede Massnahme hat ihre Kosten. Deshalb ist es nun am BAG, abzuwägen, wo das gute Gleichgewicht liegt.
Wir haben nun die Massnahmen vom BAG. Was raten sie als Epidemiologe?
Ich schliesse mich dem BAG an. Die Infektion wird primär über Tröpfchen weitergegeben. Man weiss mittlerweile auch, dass es teilweise auch über den Stuhl gehen kann. Man hat auch im Stuhl und im WC-Bereich aktive Viren gefunden. Deshalb gilt nach wie vor dasselbe: Gut die Hände waschen, mit den Händen nicht ins Gesicht fassen, und die Massnahmen vom «social distancing» befolgen. Damit kann man es in einer ersten Phase sicher gut in Schach halten.
Mit jedem Tag, an dem der Gesundheitsminister vor die Medien tritt, fragt sich die Öffentlichkeit: Was jetzt? Kommt ein generelles ÖV-Verbot, werden Schulen geschlossen? Schliessen Sie solche Massnahmen aus?
Grundsätzlich kann man natürlich nichts ausschliessen. Es ist eine neue Situation für uns alle. Es ist einfach wichtig, das man sieht, dass jede Massnahme einen starken epidemiologischen Effekt haben kann. Aber jede Massnahme hat auch ihre Kosten. Deshalb ist es nun am BAG, abzuwägen, wo das gute Gleichgewicht ist. Es ist eine Situation, die sich in den nächsten Wochen, Monaten weiterentwickeln wird.
In China schwächt sich die Epidemie bereits wieder ab. Was kann die Schweiz daraus lernen?
Primär, dass man das kann. Dass man dem Virus nicht einfach ausgesetzt ist und man mit den richtigen Massnahmen die Sache wieder einigermassen unter Kontrolle bringen kann. Die Chinesen waren in einer schwierigen Lage. Sie wussten zu Beginn nicht, womit sie es zu tun haben. Wir haben nun dank den chinesischen Kollegen diese Informationen und sind entsprechend besser darauf vorbereitet.
Das Gespräch führte Susanne Wille.
10vor10, 06.03.2020, 21.50 Uhr