Die Corona-Pandemie schlägt aufs Gemüt, das bekommen auch die Kinder- und Jugendpsychiatrien deutlich zu spüren. Sie haben teilweise massiv höhere Belegung auf den Notfallstationen – und die Notfälle lassen sich auch in der Psychiatrie nicht aufschieben, weil sonst ernsthafte Gefahr besteht für die Betroffenen. Es kann zum Beispiel sein, dass sie sich in der Not das Leben nehmen.
Wir haben derzeit auf unserem Notfallzentrum doppelt so viele Patienten, wie wir eigentlich Plätze haben.
Michael Kaess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bern, stellt fest: «Wir haben dieses Jahr schon 50 Prozent mehr Notfälle gehabt als in den Vorjahren.» Das Notfallzentrum sei mit doppelt so vielen Patienten belegt, wie man eigentlich Plätze habe. Die Betten stünden im Gang, die Angestellten seien nahe an der Belastungsgrenze.
Sorgen, Ängste und Eskalationen
Kaess und sein Team sehen Kinder und Jugendliche, nachdem die Situation in der Familie eskaliert ist, sie sehen auch viele junge Menschen mit Ängsten und Zwängen, weil ihre Zukunft ungewiss ist oder weil sie sich um die Gesundheit von Eltern oder Grosseltern sorgen.
«Wir sehen tatsächlich auch eine starke Zunahme ganz schwerer Krisen, also schwerer Suizidversuche aus unterschiedlichen Gründen. Und sehr viele psychotische Erstmanifestationen mit Realitätsverlust. Wir wissen, dass ein grundlegendes Klima des Stresses und der Verunsicherung solche Erkrankungen mitauslösen kann», erklärt Kaess.
Die Jugendlichen sind mit der Situation im häuslichen Umfeld wie auch in der Schule überfordert. Zu Hause können sie sich nicht mehr frei bewegen, weil die Eltern Videocalls haben.
Kinder auch daheim eingeschränkt
Gregor Berger, Leiter des Notfalldienstes der Uniklinik Zürich erklärt, weshalb viele junge Menschen gestresst sind: «Weil die Jugendlichen mit der Situation im häuslichen Umfeld wie auch in der Schule überfordert sind. Zu Hause können sie sich nicht mehr frei bewegen, weil die Eltern Videocalls haben. Sie müssen ruhig sein, was zu Spannungen in der Familie führt.»
In der Schule seien die Jugendlichen mitunter überfordert, weil sie nicht mehr das Klassenzimmer wechseln dürfen und Maske tragen müssen. Zudem bestehe zu Hause die Gefahr, dass sie in eine Medien-Abhängigkeit rutschen – dass sie also ununterbrochen gamen, chatten und Filme schauen.
Mobile Krisenteams könnten helfen
Auf seiner Notfallstation hätten die Fälle fast um 40 Prozent zugenommen, sagt Berger. Die Belastung sei grenzwertig, auch die Überzeit. Eine Möglichkeit, um die Versorgungssituation der Kinder schweizweit zu verbessern, sähe Berger in mobilen Krisenteams. Sie könnten die Familien in angespannten Situationen vor Ort unterstützen. Solche Modelle stehen und fallen aber mit den finanziellen Mitteln.
Die Kräfte müssen auch in Basel eingeteilt werden. Alain Di Gallo, Direktor an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Uniklinik, sagt: «Wir haben jetzt eine ganz wichtige Aufgabe, sehr sorgfältig zu beurteilen, wer braucht sofort Hilfe, wer braucht dringend Hilfe und wer muss und kann auch warten im Moment.»
Es ist jetzt unsere Aufgabe zu schauen, dass diese Kinder möglichst viel Sicherheit erhalten.
Massiver Einschnitt
Ein Jahr der Verunsicherung in einem jungen Leben kann schwer wiegen – viel schwerer als für Erwachsene, wo ein Jahr nur einen kleinen Bruchteil des Lebens ausmacht. Darum beschäftigt Di Gallo die Frage: «Was bedeutet so eine Pandemie für Kinder? Welchen Einfluss hat dieser massive Einschnitt auf die mittelfristige Entwicklung? Das können wir jetzt noch nicht so genau sagen. Aber jetzt ist unsere Aufgabe zu schauen, dass diese Kinder möglichst viel Sicherheit erhalten.»
Damit meint Di Gallo nicht nur die Fachkräfte. Er sieht das als Aufgabe für die ganze Gesellschaft.