Bundesrat Berset trat heute zum vierten Mal diese Woche vor die Kameras, um über das Coronavirus zu informieren. Beim ersten Auftritt des Gesundheitsministers am Dienstag lautete die Kernbotschaft: «Die Schweiz ist vorbereitet. Wir haben noch keinen Fall. Wir haben die Lage im Griff.»
Heute, nur drei Tage später, tönte der Freiburger viel vorsichtiger. Die Situation entwickle sich «rasant», man müsse «flexibel» reagieren können und «bescheiden» sein bei der Bewältigung der Krise. Haben die Behörden das Coronavirus unterschätzt, zu langsam oder gar falsch informiert, wie Kritiker diese Woche behaupteten? Kritik in einer Krisensituation ist einfach. Kritiker finden Gehör, weil die Leute Angst haben, sich Fragen stellen und das Virus unsichtbar ist. Kritiker tragen aber keine Verantwortung.
Das Epidemiegesetz greift
Das Handeln des Bundesrates und des Bundesamtes für Gesundheit wirkten auf viele Beobachter abgewogen und überlegt. Trotz rasanter Verbreitung des Virus – von Dienstag null bestätigten Schweizer Fällen auf 15 am Freitag – haben die Behörden nicht die Nerven verloren und nicht zu drastischen, medienwirksamen Massnahmen gegriffen.
Ja, das Virus ist sehr ansteckend und verbreitet sich rasend schnell. Aber laut Behörden ist es nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung (Alte und Kranke) wirklich lebensgefährlich. Und auch dort nicht bei allen: der 70-jährige Mann aus dem Tessin, der am Dienstag als erster Coronavirus-Fall der Schweiz eingeliefert wurde, hat heute das Spital gesund verlassen können.
Mit dem neuen Epidemiegesetz von 2016 hat der Bund die Kompetenzen mit den Kantonen neu geregelt. Nach den Sars- und Vogelgrippe-Epidemie gab es offenbar Abgrenzungsprobleme bei der Zuständigkeit. Diese scheinen jetzt behoben, wie auch Kantonsvertreter heute bekräftigten. Die vom Bund beschlossene Massnahme – Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden zu verbieten – ist klar, einfach verständlich und wohl wirksam.
Abwägen zwischen wirtschaftlichem Schaden und Nutzen
Trotzdem gibt es Unschärfen: Warum darf man weiterhin in überfüllten Zügen reisen? Bundesrat Berset selber gab am Freitag zu, die Schwelle von 1000 Personen habe etwas «Willkürliches» und er musste mehrmals erklären, warum eine Zugfahrt unbedenklich sein soll.
Zweifel sind angebracht, ob überfüllte IC Züge – etwa 17:32 von Bern nach Zürich – wirklich keine Ansteckungsgefahr bergen. Ansteckungen dort sind wohl möglich. Aber der wirtschaftliche Schaden bei der Streichung von IC-Hauptachsen wäre wohl grösser als der gesundheitliche Nutzen für die Bevölkerung, den man mit einem Zugfahrverbot erreichen würde.
Trotz der heute erstmals ausgerufenen «besonderen Lage» haben die Behörden mit Ruhe und gesundem Menschenverstand reagiert. Sollte sich die Lage weiter zuspitzen, wovon ausgegangen werden muss, wollen die Behörden weiterhin ruhig reagieren. Nicht ganze Städte sollten abgesperrt, sondern gezielte Massnahmen getroffen werden, um etwa Alte in Heimen zu schützen (mit einfachen Besuchsverboten). In der Ruhe liegt die Kraft – auch während der «besonderen Lage», die heute ausgerufen wurde.
Tagesschau, 28.2.2020, 12:45 Uhr; gotl